staunen, nicht ärgern

Virginia Woolf, The Waves

Hier wird eine Diskussion vorweg genommen, die im Poststrukturalismus wieder auftaucht. Der traditionelle Roman konstruiert eine Welt, eben die des Autors. Er wählt den Ausschnitt aus der Welt aus, den er darstellen will und für bedeutsam hält, er erzählt, wie sich ein bestimmter Typ Mensch, eben der von ihm gewählte, zu dieser Welt verhält und er bestimmt die Motive, aufgrund derer sich die Menschen zur Welt so oder eben so verhalten. Die Literaturkritik nach dem zweiten Weltkrieg verwirft damit nicht die Bedeutung des traditionellen Romans, reduziert ihn aber auf eine Geschichte unter sehr vielen Geschichten, dem kein Wahrheitsgehalt oder Authentizität mehr zukommt. Das ganze gipfelt dann im Nouveau Roman, Allain Robbe-Grillet, Michel Butor etc.. Da der traditionelle Roman praktisch nur eine Geschichte unter sehr vielen Geschichten ist, die Verbindung zur Realität eher dünn bzw. eine ziemlich subjektive Angelegenheit, ist, tritt der Autor im Nouveau Roman völlig in den Hintergrund, wird zum Produzenten von Texten, was heutzutage ja auch ChatGPT hinkriegen würde. Wenn die Geschichte nur eine unter vielen möglichen Geschichten ist und die Authentizität lediglich noch maximal für den Erzähler existiert, ist dieser irrelevant. Die Geschichte mutiert zum Narrativ, ein Begriff der es irgendwie aus der akademischen Blase in die Niederungen der Massenmedien geschafft hat. Dem Narrativ, der sinnstiftenden Erzählung, kommt eben kein Wahrheitsgehalt und keine Bedeutung mehr zu, womit wir dann bei einer Binse landen. Das Wort Narrativ klingt zwar schick, bedeutet aber nichts anderes, als dass Fakten eben unterschiedlich bewertet werten können, bzw. jeder die Fakten zur Kenntniss nimmt, oder eben gar keine, die ihm gerade in den Kram passen. Das Phänomen war bereits hinlänglich bekannt, bevor der Begriff Narrativ die Massenmedien im Sturm eroberte.

Wer will, kann also finden, dass in The Waves eine Diskussion vorweg genommen finden, die in den fünfziger und sechziger Jahre in der akademischen Blase geführt wurde. Das Problem der akademischen Blase war und ist, dass sich durch die Fokusierung auf Texte, Intertextualität, Textproduktion etc. die Frage nach der Authentizität gar nicht mehr stellt. Es gibt schlicht gar keinen Bezug mehr zur außersprachlichen Wirklichkeit. Das ist sachlogisch nonsense. Allein die Erfahrung mit der außersprachlichen Wirklichkeit kann uns die Bedeutung von Wörter lehren. Bezieht sich ein Wortgeklingel auf ein Wortgeklingel ist das Ergebnis ein Wortgeklingel. Der Meister des Wortgeklingels ist ChatGPT, siehe https://theatrum-mundi.de/rede-frank-walter-steinmeiers-anlaesslich-des-tages-der-deutschen-einheit-vom-3-oktober-2023-generated-bei-chatgpt/.

Der Roman The Waves ist allerdings das genaue Gegenteil von Textproduktion. Die Kritik an der Sprache ist zwar tatsächlich fundamental und radikal allerdings nicht, wie im Postrukturalismus, weil Authentizität schlicht gar nicht existiert, sie sozusagen eine Fata Morgana ist, sondern weil es der Sprache nicht gelingt, Authentizität zu fassen. Gesucht wird eine andere Sprache, wie Bernard das formuliert.

„I begin to longe for some little language such lovers use, broken words, inarticulate words, like the shuffling of feet over the pavement. I beginn to seek some design more in accordance with those moments of humliation and triumph that come now and then undeniably. Lying in a ditch on a stormy day, when it has been raining, then enormous clouds come marching over the sky, tattered clouds, wisps of cloud. What delights me is the confusion, the height, indifference and the fury. Great clouds always changing, and mouvement; something sulfurous and sinister, bowled up, helter-skelter, towering, trailing, broken off, lost and forgotten, minute in a ditch. Of story, of design, I do not see a trace then.“

„Ich beginne mich nach einer kleinen Sprache zu sehnen, wie Liebende sie benutzen, abgebrochene Wörter, gestammelte Wörter, wie wenn Schuhe über den Boden schlurfen. Ich beginne nach einer Ausdrucksform zu suchen, die mehr mit den Momenten der Demütigung und des Triumphes übereinstimmt, die unweigerlich immer mal wieder passieren. Stellen wir uns vor, wir liegen in einem Graben an einem stürmischen Tag, an dem es den ganzen Tag geregnet hat, dann riesige Wolken die über den Himmel wandern, zerfetzte Wolken, Wolkenbündel. Was mich begeistert ist das Chaos, die Höhe, die Gleichgültigkeit und die Heftigkeit. Große Wolken, die sich immerfort verändern, und Bewegung; etwas Heftiges, Unheil verkündendes, aufgetürmt, durcheinander Gewirbeltes, Herausragendes, Jagendes, Zerbrochenes, verloren und vergessen, eine Minute im Graben. Von einer Geschichte, einer Ausdrucksform, kann ich da keine Spur erkennen.“

Stark anzunehmen, dass die Beschreibung auf jemanden, der tatsächlich mal unter diesen Umständen im Graben lag sehr viel stärker wirkt, als jemand, der das oder etwas ähnliches noch nie erlebt hat. Es gibt einen Weg vom Erleben zur Sprache, aber es gibt keinen Weg von der Sprache zum Erleben. Da liegt Gadamer und Co so falsch, wie man nur falsch liegen kann, siehe https://theatrum-mundi.de/gadamer-und-der-schwachsinn-mit-der-hermeneutik/ und ein paar andere.

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