staunen, nicht ärgern

Virginia Woolf, The Waves

„Das ist Jinny“, sagte Susan. „Sie steht in der Tür. Es ist, als ob die Welt still stehen würde. Die Kellner halten inne. Die am Tisch in der Nähe der Tür schauen auf. Um sie herum strahlt alles, die Tische, die Linien der Türen, Fenster, die Decke, wie die Strahlen rund um den Stern in der Mitte einer eingeworfenen Fensterscheibe. Sie bringt die Dinge auf den Punkt, schafft Ordnung. Jetzt sieht sie uns und bewegt sich, und alle Strahlen kräuseln und fließen und flattern über uns hinweg, erzeugen ganz neue Fluten von Gefühlen. Wir verändern uns. Louis legt die Hand auf seine Krawatte. Neville, abwartend, gequält und in sich gekehrt, legt nervös die vor ihm liegende Gabel zurecht. Rhoda betrachtet sie überrascht, ganz so, als ob am fernen Horizont ein Feuer lodern würde. Und ich, obwohl ich meinen Geist mit nassem Gras, mit feuchten Feldern, mit dem Geräusch des Regens auf dem Dach und Windböen, die das Haus im Winter durchrütteln, angefüllt habe und so meine Seele vor ihr geschützt habe, spüre wie ihr Hohn um mich schleicht, spüre wie ihr Gelächter seine Feuerzungen um mich herumschlängelt und unbarmherzig mein schäbigen Kleid beleuchtet, meine rechteckig zugeschnittenen Fingernägel, die ich sofort unter der Tischdecke verstecke.

Identität wird zunehmend als Grenze beschrieben, als etwas was die Erfahrungsfähigkeit einschränkt. Die Identität bestimmt unser Handeln, ist die Konfrontation mit der Welt. Am Schluss empfindet Bernard Identität, die sich ja immer nur auf der Grundlage eines Ausschnitts der Welt bilden kann, als hinderlich.

No, but I wish to go under; to visit the profound depths; once in a while to exercise my prerogative not always to act, but to explore; to hear vague, ancestral sounds of boughs creaking, of mammoths; to indulge impossible desires to embrace the whole world with the arms of understanding–impossible to those who act.

Nein, aber ich möchte versinken; die unauslotbaren Tiefen besuchen; manchmal von meiner Möglichkeit Gebrauch machen, nicht zu handeln, sondern zu erforschen; das Gerausch von brechenden Äste, von Mammuths zu hören, das schon unsere Vorfahren hörten; mich unmöglichen Wünschen hinzugeben, die ganze Welt mit verstehenden Armen umfassen; alles unmöglich für die, die Handeln.

Handeln setzt eine Auseinandersetzung mit der Welt voraus, eine Identität als Kontinuum. Wer handelt will nicht verstehen, er will ein Ziel erreichen.

6) Identität, wenn diese nur aus Geschichten besteht

Sprachkritik finden wir auch in Goethes Faust, siehe https://theatrum-mundi.de/sprachkritik-in-goethes-faust/ oder dezidiert bei Rainer Maria Rilke. (Dessen Werk Virginia Woolf kannte, denn dessen Bücher wurdem im Hogarth Verlag veröffentlicht.)

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um

Ähnliche Gedanken finden wir auch im Roman The Waves. Wörter und Geschichten deren Beginn hier und deren Ende dort ist, sind eben Geschichten, die immer auf die Füße fallen, wie Bernard es formuliert oder die eben wissen was wird und war. Worte pressen alles in ein vorgefertiges Schema oder, wie Bernard es formuliert, ständig tauchen Wörter auf, die nicht passen, was das Unglück all jener Leute ist, die in einem alten Kulturkreis aufgewachsen sind. Ein unmittelbarer Zugang zur Welt ist so gar nicht mehr möglich, weil sich ständig Wörter dazwischen schieben.

Der Sprache wird im Roman The Waves eigentlich so mehr oder weniger alles abgesprochen: Bestritten wird die Authentizität von Wörtern. Bedeutung haben sie, darin ähneln sie Geldmünzen, wenn sie durch irgendwas gedeckt sind; die Wörter durch Erleben und die Münzen durch Dinge, die man sich dafür kaufen kann. Sind die Wörter nicht durch eigenes Erleben gedeckt, dann klingeln sie wie Münzen, für die man sich nichts mehr kaufen kann. Bestritten wird, dass den Geschichten ein Wahrheitsgehalt zukommt; was die Protagonisten suchen ist Unmittelbarkeit und nicht eine Welt, die durch Sprache vermittelt wird. Und last not least, wird den Geschichten auch die Bedeutsamkeit abgesprochen, denn wenn alles zur Geschichte werden kann, dann ist eine Geschichte eben beliebig und was beliebig ist, ist eben nicht bedeutsam.

Man kann sich jetzt fragen, wieso eine Schriftstellerin, die mit der Sprache arbeitet, eine so radikale Kritik an der Sprache üben kann. Wenn Sprache weder authentisch, noch wahr noch bedeutsam ist, kann man damit, vordergründig betrachtet, auch nur Romane produzieren, denen weder Authentizität, noch Wahrheit noch Bedeutung zukommt. Die These wäre dann richtig, wenn der Weg von der Sprache zur Authentizität, Wahrheit und Bedeutung führen würde. Es ist aber genau umgekehrt: Es ist die Authentizität, die Wahrheit und die Bedeutung, die zur Sprache führt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert