staunen, nicht ärgern

Virginia Woolf, The Waves

4) Die Ebenen

4.1) Wellen und Licht

Man muss nicht unbedingt Parallelen ziehen zur biblischen Schöpfungsgeschichte, über die Symbolik von Wellen, die von Anbeginn der Welt am Strand auslaufen um wieder im Meer zu verschwinden, braucht man nicht lange nachdenken. Wer will, kann an die biblische Schöpfungsgeschichte denken.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Die Erde war noch leer und öde,
Dunkel bedeckte sie und wogendes Wasser,
und über den Fluten schwebte Gottes Geist.
Da sprach Gott: »Licht entstehe!«,
und das Licht strahlte auf.
Und Gott sah das Licht an: Es war gut.
Dann trennte Gott das Licht von der Dunkelheit
und nannte das Licht Tag,
die Dunkelheit Nacht.
Es wurde Abend und wieder Morgen:
der erste Tag.
Dann sprach Gott:
»Im Wasser soll ein Gewölbe entstehen,
eine Scheidewand zwischen den Wassermassen!«
So geschah es: Gott machte ein Gewölbe
und trennte so das Wasser unter dem Gewölbe
von dem Wasser, das darüber war.
Und Gott nannte das Gewölbe Himmel.
Es wurde Abend und wieder Morgen:
der zweite Tag.

Die sinnstiftende Erzählung, also Gott, fehlt in The Waves, aber immerhin sorgt sowohl in der Bibel wie auch in The Waves das Licht dafür, dass es Tag und wieder Nacht wird. Sachlogisch ist die Angelegenheit etwas merkwürdig, weil Gott erst anschließend die lichtspendenden Himmelkörper erschafft, also nachdem er vorher schon das Licht erschaffen hat, die Tag und Nacht voneinander unterscheiden.

Dann sprach Gott:
»Am Himmel sollen Lichter entstehen,
die Tag und Nacht voneinander scheiden,
leuchtende Zeichen,
um die Zeiten zu bestimmen:
Tage und Feste und Jahre.
Sie sollen am Himmelsgewölbe leuchten,
damit sie der Erde Licht geben.«

Insgesamt erzählt die Bibel aber eine ganz andere Geschichte und vor allem ist das Licht in der Genesis nicht verschränkt mit der Herausbildung und Verblassen der Identität und das Wasser oder die Wellen stehen in der Bibel auch nicht für die fortschrittslose Kontinuität der Welt wie im Roman The Waves.

Louis erlebt zwar Momente der Authentizität, wenn er als Teil der Wirtschaftselite die Geschicke der Nation lenkt und damit eine Geschichte fortsetzt, die bei den alten Ägyptern beginnt, ganz bei sich ist er aber in seiner Mansarde, die er weiterhin bewohnt.

I should be transient as the shadow on the meadow, soon fading, soon darkening and dying there where it meets the wood, were it not that I coerce my brain to form in my forehead; I force myself to state, if only in one line of unwritten poetry, this moment; to mark this inch in the long, long history that began in Egypt, in the time of the Pharaohs, when women carried red pitchers to the Nile. I seem already to have lived many thousand years. But if I now shut my eyes, if I fail to realize the meeting-place of past and present, that I sit in a third-class railway carriage full of boys going home for the holidays, human history is defrauded of a moment’s vision.

Vergänglich wäre ich wie der Schatten auf der Wiese, bald verblassend, dann wieder dunkler werden und sterben, wo er den Wald erreicht, wenn ich nicht mein Gehirn zwingen würde, auf meiner Stirn eine Form anzunehmen; ich zwinge mich, wenn auch nur in der Form eines ungeschriebenen Gedichts, diese Moment festzuhalten; diese kurze Strecke in der langen, langen Geschichte der Menschheit festzuhalten, die in Ägypten, zur Zeit der Phraonen, begann, als die Frauen rote Krüge zum Nil trugen. Es scheint mir, als ob ich schon viele Tausend Jahre lebe. Aber wenn ich jetzt die Augen schließe, wenn ich es nicht schaffe, jetzt wo ich in einem dritte Klasse Abteil eines Zuges mit lauter Jungs, die während der Ferien nach Hause fahren, sitze, mich am Treffpunkt von Vergangenheit und Gegenwart einzufinden, dann wird die Menschheit für immer der Vision beraubt werden, die dieser Moment hat.

Indem er sein Gehirn zwingt, in seiner Stirn eine Form anzunehmen, nimmt er eine Identität an. Die Idee, Teil eines Kontinuums zu sein, kennt man, allerdings ist das ideologisch unproblematisch, wenn dieses Kontinuum bei den alten Ägyptern ansetzt. Das immergleiche Kontinuum ist sowenig eine sinnstiftende Geschichte, wie die Wellen, die ins Meer zurückfallen wie Generationen, die wieder im Nichts verschwinden. Die Bilder, mit denen die Kraft der Wellen beschrieben werden, finden sich auch im inneren Monolog von Louis für die Beschreibung der „Welt“. Beide werden verglichen mit dem Stampfen eines wilden Tieres.

The waves fell; withdrew and fell again, like the thud of a great beast stamping.

I see wild birds, and impulses wilder than the wildest birds strike from my wild heart. My eyes are wild; my lips tight pressed. The bird flies; the flower dances; but I hear always the sullen thud of the waves; and the chained beast stamps on the beach. It stamps and stamps.

Die Wellen fallen, ziehen sich zurück und fallen wieder, wie Dröhnen eines großen, stampfenden Tieres.

Ich sehe wilde Vögel, und Kräfte wilder noch als die der wildesten Vögel mein Herz treffend. Meine Augen sind wild, meine Lippen fest zusammengepresst. Der Vogel fliegt; die Blume tanzt; doch ich höre immer das mürrische Donnern der Wellen; und das angekettete Tier stampft am Strand. Es stampft und stampft.

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