staunen, nicht ärgern

Virginia Woolf, The Waves

Die Frage nach der Authentizität von Sprache beschäftigt auch den Autor dieser Zeilen dann und wann, siehe hier https://theatrum-mundi.de/das-genie-der-schriftsteller-und-die-hermeneutik/ und x-andere. Letztlich wird die Authentizität von Sprache durch die Intuition gedeckt und an dieser Stelle wird es etwas „metaphysisch“.

Sagen lässt sich allerdings, dass die Protagonisten im Roman The Waves ziemlich atypisch sind. Die Leute, die Wörter aneinander kleben, fällt in der Regel gar nicht auf, dass sie an der Außenseite der Wörter kleben. Vielleicht wird klarer, was man unter „an der Außenseite der Wörter kleben“ verstehen kann, wenn man das liest: https://theatrum-mundi.de/bedeuten-die-grenzen-meiner-welt-die-grenzen-meiner-sprache-oder-bedeuten-die-grenzen-meiner-sprache-die-grenzen-meiner-welt/. Man klebt an der Außenseite der Wörter, wenn die Wörter nicht durch eigenes Erleben gedeckt sind. Es bleibt aber jedem offen, sich seinen Teil dazu zu denken.

Bleibt noch die Frage, nach was in dem Roman The Waves in letzter Konsequenz gesucht wird, bzw. was man finden kann, wenn es keinen Fortschritt gibt und ein Jenseits sowieso nicht. Finden kann man die Momente, wo Identität und Authentizität zusammenfallen. Für Louis sind das die Momente, wo er ganz aufgeht in seiner Rolle als Wirtschaftlenker, für Susanne die Momente, wo sie ganz aufgeht in ihrer Rolle als Mutter und Farmerin, für Jinny, die diesen Zustand noch am vollkommensten erreicht, ist es die Hingabe an das tobende Leben, das Mitgerissenwerden von einer Gesellschaft, die sie vollkommen bejaht. Rhoda wird ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden, die Authentizität, die sie sucht, ist nicht von dieser Welt. Sie stürzt sich in die Tiefe und stirbt. Bernard ist der Leichtfuss der Sechs, zumindest zu Beginn. Er weiß, dass er nur Geschichten erfindet, hat aber, im Gegensatz zu Neville und Louis, auch nicht die kritische Distanz zu Geschichten.

Da keiner der sechs diesen Zustand erreicht, also einen Zustand, wo Authentizität und Identität dauerhaft zusammenfällt, sehen sie in dem jeweils anderen das, was sie nicht sind, weil sie sich festgelegt haben.

Nach der unmaßgeblichen Ansicht des Autors dieser Zeilen dient es dem Verständnis des Romans, wenn man zwischen Identität und Authentizität trennt. Die Identität beruht auf einer Geschichte, man identifiziert sich mit einem Land, wrong or right my country, einer Religion, einer Ideologie, einem philosophischen Überbau, identifiziert sich mit einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, einem Ideal oder was auch immer. Diese Identität kann von Zeit zu Zeit ins Wanken geraten, was sie ja bei den Protagonisten dieses Romans eben tut, auch wenn die Gründe hierfür unterschiedlich sind. Das authentische Erleben hingegen wird nie in Frage gestellt, das ist etwas, bei dem man ganz im Moment lebt, sich ganz hingibt. Wenn jemand an der Authentizität des Erlebens eines Moments zweifelt, dann ist dieses Erleben eben nicht sonderlich authentisch.

Vermutlich sind sowohl Identität als auch Authentizität gesellschaftlich vermittelt und wer Lust hat, kann noch eine dritte Ebene einziehen, die Stimmung. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es der Identität an Unmittelbarkeit mangelt, was bei der Authentizität nicht der Fall ist. Die Authentizität wird auch nicht, im Gegensatz zur Identität, die eben oft nur eine sinnstiftende Geschichte ist, durch die Sprache vermittelt.

 

Vorwort II

Der Abstand zu einem klassischen Roman, „klassisch“ sind im übrigen auch reine Unterhaltungsromane aufgebaut, die alljährlich im Tausender Pack, sortiert nach Lesebedürfnissen, Liebe / Horror / Science Fiction / Abenteuer / Kinder / Frauen etc. auf den Markt geworfen und zielgruppengerecht vermarktet werden, ist so radikal, dass man die alle in einen Sack stecken kann. Der klassische Roman erzählt eine Geschichte, die räumlich und zeitlich bestimmt ist und die Protagonisten reagieren, in welcher Art auch immer, auf die Zeitläufte. Der klassische Roman beschäftigt sich nicht mit der conditio humana an und für sich. Er erzählt eine Geschichte. Da aber sehr viele Geschichten erzählt werden können, stellt sich die Frage, welche relevant sind, welche authentisch und welche wahr sind; oder um es mit Bernard zu sagen. (Am Ende richtet sich Bernard direkt an den Leser.)

„But in order to make you understand, I must tell you a story – and there are so many, and so many – stories of childhood, stories of school, love, marriage, death, and so on and so on; and none of them are true. Yet like children we tell each other stories, and to decorate them we make up these ridiculous, flamboyant, beautiful phrases. How tired I am of stories, how tired I am of phrases that come down beautifully with all their feet on the ground!“

„Aber damit Sie das verstehen, muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen – und es gibt so viele Geschichten, so viele – Geschichten aus der Kindheit, Geschichten aus der Schulzeit, Liebe, Heirat, Tod und so weiter; und keine davon ist wahr. Wie Kinder erzählen wir uns Geschichten, dekorieren sie mit diesen lächerlichen, glänzenden, schönen Phrase. Wie mich Geschichten ermüden, wie mich die Phrasen ermüden, die so schön mit den Füßen auf dem Boden landen.“

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