staunen, nicht ärgern

Virginia Woolf, The Waves

Von der Tendenz her „klassisch“ ist auch jede Interpretation angelegt. Der Interpret, in diesem Falle der Autor dieser Zeilen, hat immer das Bedürfnis, ein Werk auf eine griffige Formel zu bringen, was ja auch oft gelingt, weil schon der Urheber des Werkes das Weltgeschehen auf eine griffige Formel gebracht hat. Die griffige Formel wird man in dem Werk The Waves nicht finden. Unter griffiger Formel verstehen wir jetzt irgendwas, was zumindest subjektiv kohärent ist, eine sinnstiftende Geschichte, wobei diese nicht mal durch Authentizität gedeckt sein muss. Das sind dann die Geschichten vom Jesulein, von den Patrioten, von der Akkumulation des Kapitals, vom Weltgeist und was es sonst noch so alles gibt. Aber welche kohärente Geschichte kann es geben, von Authentizität mal ganz zu schweigen, wenn Generation auf Generation folgt wie Welle auf Welle und wie die Welle auch wieder im Meer bzw. nichts verschwindet? Vielleicht gibt es gar keine Identität, aber zumindest phasenweise Authentizität. (Wir verstehen jetzt mal ganz pragmatisch unter Identität ein Bewußtsein, dessen Verhalten zur Welt so einigermaßen konstant ist. Diese Identität kann auch reines Wortgeklingel sein, wobei die Lautstärke des Wortgeklingels wohl umgekehrt proportional zur Erfahrungsfähigkeit verläuft. Bei Patrioten z.B. ist immer ziemlich viel Wortgeklingel und wenig Erfahrungsfähigkeit. Authentizität ist mehr ein momentaner Zustand, etwas rein Intrinsisches, etwas, wo wir ganz bei uns selbst sind, unabhängig davon, wie der Rest der Menschheit das bewertet. Auf die Identität nimmt die Gesellschaft Einfluss, auf die Authentizität nicht. Der Autor dieser Zeilen würde sagen, die Protagonisten in The Waves haben Probleme, diese zwei Ebenen in Einklang zu bringen. In der Öffentlichkeit wird ihnen eine Identität aufgezwungen, hierfür reicht es schon, wie im Roman oft beschrieben, der Blick der anderen, authentisch können sie nur alleine sein.

How much better is silence; the coffee cup, the table. How much better to sit by myself like the solitary sea-bird that opens its wings on the stake. Let me sit here for ever with bare things, this coffee cup, this knife, this fork, things in themselves, myself being myself.

Wieviel besser ist die Stille; die Kaffetasse, der Tisch. Wie viel besser ist es alleine irgendwo zu sitzen wie der einsame Seevogel, der seine Schwingen auf einem Pfahl aufspannt. Lass mit hier sitzen nur mit kahlen Dingen, dieser Kaffetasse, diesem Messer, dieser Gabel, Dinge, die nur Dinge sind und ich nur ich selbst.

 

3) Chronologie der Handlung (unwichtig, kann man sich aber mal klar machen)

Die Entwicklung der Protagonisten wird dargestellt vor dem Hintergrund verschränkter Ebenen, siehe Prolog I, die sich allerdings nie ändern. Die Wellen illustrieren das am deutlichsten. Sie kommen, laufen am Strand aus und fallen wieder ins Meer zurück. Dargestellt werden also die verschiedenen möglichen Lebensentwürfe vor diesem immer gleichen Hintergrund, wobei alle ihren Lebensentwurf mehr als Grenze, denn als Erfüllung empfinden. Handlungsoptionen sind zwar vorhanden, Susan gründet eine Familie und baut eine Farm auf, Louis wird Teil einer wirtschaftlichen Elite, Jinny gelingt es noch am ehesten, ganz im Hier und Jetzt zu leben, Rhoda begeht Selbstmord, Neville wird Universitätsprofessor (das wird zumindest angedeutet) und bei Bernard ist unklar, was aus ihm geworden ist. Er wollte wohl Schriftsteller werden, widmet sich aber nach der Geburt seines ersten Kindes einer Tätigkeit, die mehr Sicherheit verspricht. Diese Optionen sind immer gegeben, der Roman hätte auch im 18. oder 19. Jahrhundert spielen können und ob die Protagonisten ihre gesamte Schulzeit zusammen verbringen oder getrennt werden, ist eigentlich egal.

Die Protagonisten sind manchmal zusammen, zum Beispiel in der frühen Kindheit, machmal getrennt; getrennt sind sie, wenn Louis, Neville und Bernard auf ein Internat gehen und Susan, Rhoda und Jinny auf ein anderes. Danach sind sie nur noch sporadisch zusammen, etwa wenn sie sich in Hampton Square treffen. Wenn sie zusammen sind, befinden sich ihre inneren Monologe in einem Abschnitt verschränkt, sind sie das nicht, haben wir in einem Abschnitt nur innere Monologe von Louis, Neville und Bernard oder von Susan, Jinny und Rhoda. (Das Schema wird dann später aber aufgegeben. Später, wenn sie ihre eigenen Wege gegangen sind, finden sich innere Monologe der Protagonisten in einem Abschnitt.)

Ihre gemeinsame Kindheit verbringen sie Elvedon, wobei unklar ist, ob der Kindergarten / die Vorschule tatsächlich so heißt, oder Bernard sich den Namen ausgedacht hat. Ereignisse aus dieser frühen Kindheit tauchen im Roman immer wieder auf. Louis sondert sich von der Gruppe ab, wird aber von Jinny zufällig entdeckt, die ihm einen Kuss gibt, was wiederum Susan sieht. Bernard folgt ihr und um sie zu trösten bzw. abzulenken, erfindet er eine Geschichte. Sehr viel später erfahren wir, dass Louis um Susanne geworben hat, sie ihn aber abgelehnt hat. Die Geliebte von Louis wird Rhoda.

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