staunen, nicht ärgern

Sprachkritik in Goethes Faust

In diesem Fall, also in Goethes Faust, haben wir es mit einem Dichter zu tun, der mit der Gesellschaft über Kreuz liegt und mit einer Dichtung, bei der zumindest der Dichter selbst nicht erwartet, dass die Welterfahrung des Publikums mit seiner Welterfahrung übereinstimmt. (Was im übrigen gar nicht bei jeder Art von Literatur notwendig ist. Alle Romane von z.B. Lion Feuchtwanger setzen keine Welterfahrung voraus, sind aber ganz spannend, unterhaltsam und lehrreich. Wir erfahren z.B. in dem Roman Goya viel über das Spanien jener Zeit, sind aber persönlich nicht involviert.)

O sprich mir nicht von jener bunten Menge,
Bei deren Anblick uns der Geist entflieht.
Verhülle mir das wogende Gedränge,
Das wider Willen uns zum Strudel zieht.
Nein, führe mich zur stillen Himmelsenge,
Wo nur dem Dichter reine Freude blüht;
Wo Lieb und Freundschaft unsres Herzens Segen
Mit Götterhand erschaffen und erpflegen.

Ach! was in tiefer Brust uns da entsprungen,
Was sich die Lippe schüchtern vorgelallt,
Mißraten jetzt und jetzt vielleicht gelungen,
Verschlingt des wilden Augenblicks Gewalt.
Oft, wenn es erst durch Jahre durchgedrungen,
Erscheint es in vollendeter Gestalt.
Was glänzt, ist für den Augenblick geboren,
Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.

Himmelsenge, tiefe Brust, Lippe schüchtern vorgelallt deuten darauf hin, dass der Dichter selbst eher intuitiv auf die Welt reagiert. Das ist die Liga Rilke, der AHNT auch die Winde, die kommen. Der Dichter ist hier eine der weltabgewandte Persönlichkeit, hält sich fern von der Tagespolitik, die ja auch tatsächlich etwas repetitiv ist, die Leute aber mächtig für kurze Zeit beschäftigt, bis ein neues Thema das Blut in Wallung versetzt.

Hier geht der Dichter davon aus, dass erst kommende Generationen sein Werk in vollkommener Gestalt sehen werden, weil der Dichter seiner Zeit voraus ist. Teilweise stimmt das, an Beispielen mangelt es nicht. Musil z.B. erlangte Weltruhm erst nach seinem Tode. Teilweise beruht die späte Würdigung aber auch schlicht auf der Tatsache, dass ein Werk Eingang gefunden hat in das staatliche Bildungssystem und da rotiert dann vieles, was eher mal in der Vergangenheit geglänzt hat, weil es in der Vergangenheit anschlussfähig war, wobei es besser wäre, man würde es jetzt beerdigen. Unstrittig richtig ist, dass ziemlich viel mal ein paar Monate glänzt und die Menschheit beschäftigt, dann aber für immer dem Vergessen anheim fällt. Dieser konkrete Dichter ist auf jeden Fall speziell. Der andere Typ wird von der lustigen Person charakterisiert. Das ist dann der Typ, der den Nerv der Zeit unmittelbar trifft und eine ganze Zeit charakterisieren. Für dem spanischen Kulturkreis wäre das z.B. die Vertonung der Gedichte von Antonio Machado durch Manuel Serrat: https://www.youtube.com/watch?v=qpz6yFZrSok Die Zeit kann gegen den Dichter arbeiten, der Dichter kann aber auch einer allgemeinen Befindlichkeit Ausdruck verleihen.

Im Grunde antizipiert das Vorspiel auf dem Theater die ganze Entwicklung der Kulturindustrie in den folgenden 300 Jahren. Was hat das mit Sprache zu tun? Mit Sprache hat das insofern was zu tun, als an der Grenze der Welterfahrung die Sprache lyrisch wird. Klingt kompliziert, ist aber total einfach zu verstehen. Das Lied The times there are a changing wird offensichtlich von Hunderten von Millionen Leuten erfasst, drückt ein „Lebensgefühl“ aus, ohne dass konkrete Bezüge zur Realität vorhanden sind.

(Die Kritik Adornos, dass das Kitsch ist, greift hier auch nicht wirklich. Louis Vuitton, vor dessen Haustür die das Konzert veranstaltet haben, ist vielleicht nicht kitschig, dafür aber hochgradig schwachsinnig, siehe https://theatrum-mundi.de/monopol-magazin-oder-die-verpunktung-des-hirns/. Im übrigen müsste Adorno den Nachweis bringen, dass nicht das, was er als Kitsch oder Verschnulzung bezeichnet, nicht doch einen gewaltigen impact haben kann. Das ist nämlich oft der Fall.)

Direkter um Sprache geht zu Beginn der Szene Studierzimmer II. Es ist zwar nicht ganz klar, was Goethe uns hier mitteilen will, konkreter wird es an einer anderen Stelle, siehe unten, aber offensichtlich hat Goethe die Frage beschäftigt, ob es tatsächlich sowas wie den Primat der Sprache gibt.

Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen,

(Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.)

Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

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