(2) Hinsichtlich der Semantik, also der Bedeutung von Wörtern, interessiert in diesem Zusammenhang vor allem, wie Wörter gelernt werden. Hier kann man drei Fälle unterscheiden.
a) Die Bedeutung des Wortes kann ohne weiteres aus dem Kontext entnommen werden. Das ist dann trivial.
b) Die Bedeutung des Wortes lässt sich nur langsam durch persönliche Erfahrungen bzw. Abstraktion erschließen. Das ist dann gar nicht mehr trivial.
c) Die Bedeutung eines Wortes lässt sich schlicht gar nicht aus dem Kontext erschließen, aber trotzdem werden bestimmte Wörter nur in einem bestimmten Kontext verwendet. Das ist dann rätselhaft und irgendwie mystisch.
d) Die Bedeutung ergibt sich durch Sugestion. Das scheint angeboren zu sein, den es läuft in allen Sprachen ähnlich.
(a) Dass ein Kind Wörter wie Tisch, Stuhl, Glas, Messer, Gabel etc. lernt ist einfach nachzuvollziehen. Dafür braucht es nicht viel Hirnschmalz, weil im Lernprozess das Gemeinte, also das linguistisch gesehen das signifié, unmittelbar referenziert wird. Bis hierhin könnte man noch sagen, Wörter werden gelernt, wie eben auch alle anderen Daten und Fakten gelernt werden. Das ist ziemlich trivial. Das ist sozusagen die Trivialebene auf der Saussure philosophiert. Zu jedem signifiant, einem Bezeichnenden, gehört ein signifié, etwas Bezeichnetes. (Genau genommen ist nicht mal das so richtig trivial, weil das Gehirn ja nichts Konkretes vor Augen hat und das Bezeichnete erst in Abhängigkeit vom Kontext konretisiert wird. In einem Satz „Was für einen Salat willst du?“ wird der Angesprochene den Begriff Salat konretisieren. In einem Satz „Da haben wir den Salat!“ wird er den Salat nicht konkretisieren. Selbst auf dieser Ebene ist das signifié, das Bezeichnete, eine Assoziationswolke, die je nach Kontext konkretisiert wird oder nicht.) Auf dieser Ebene könnten wir auch schlicht von Wörtern sprechen und sie von Begriffen abgrenzen. Wort und Begriff ist nicht das gleiche, wie wir schon bei Goethes Faust nachlesen können.
Denn eben wo Begriffe fehlen
da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein
mit Worten lässt sich trefflich streiten
mit Worten ein System bereiten
an Worte lässt sich trefflich glauben
von einem Wort, lässt sich kein Jota rauben.
Hier wird etwas in Verbindung gebracht, was nicht verbunden werden kann. Darin besteht der Witz. Worte beschreiben eben gerade kein System. Ist der Begriff zum Wort geschrumpft, haben wir eher eine Worthülse.
Goethe unterscheidet also zwischen Wort und Begriff. Das Wort setzt kein tieferes Verständnis voraus, der Begriff schon. Marktwirtschaft ein Begriff, kein Wort. Der Begriff Marktwirtschaft bezeichnet ein bestimmtes System, dessen Funktionsweise man verstehen muss. Andernfalls ist der Begriff sinnfrei. Tisch ist ein Wort, zu verstehen gibt es da nichs.
(b) Schwieriger wird es bei Begriffen, die erst im Laufe des Lebens, durch Introspektion oder Abstraktion, eine Bedeutung bekommen, bzw. deren Bedeutung sich im Laufe des Lebens ändert. Das betrifft z.B. alle Arten von Gemütszuständen: Liebe, Hass, Neid, Begeisterung, Glück, Angst, Horror, Trauer, Zufriedenheit, Verzweiflung etc. etc.. Was hier genau passiert, bzw. wie die Bedeutung dieser Wörter ermittelt wird, ist weitgehend unklar. Alle Deutschen wissen zwar, dass Horror eine Stufe schärfer ist als Angst, aber den absoluten Horror, also eine Welt, die total unbeherrschbar ist, haben zumindest in zivilisierten Gesellschaften die wenigstens Menschen schon real erlebt. Was Angst ist, lernen die meisten Menschen im Verlaufe ihres Lebens, viele vielleicht auch nur in der Softvariante, etwa als Prüfungsangst. Viele erleben vielleicht auch Verzweiflung, also wenn es für ein existentielles Problem keine Lösung mehr zu geben scheint. Der Horror ist aber nochmal eine Variante schärfer. Deutsch Muttersprachler kennen zwar die Abstufungen, aber unklar ist, wie sie diese gelernt haben. Es ist ein komplizierter Mix aus Introspektion, also der Fähigkeit psychische Zustände mit einem Wort abzugleichen, und dem Kontext, in dem ein Wort auftaucht. Das semantische Feld ist also eher etwas, was als Potential vorliegt und in Abhängigkeit von der persönlichen Erfahrung mit einem konkreten Inhalt gefüllt wird. Liebe z.B. ist erst Mal ein Wort, das gar nichts bedeutet. Ein Kind wird damit die Gefühle verbinden, die es für seine Eltern empfindet. Später werden dann alle möglichen Gefühlszustände unter diesem Begriff subsumiert. Möglich ist aber auch, dass ein Begriff existiert, der schlicht nie konkretisiert wird. Das ist z.B. mit dem Begriff Geist in dem Wort Geisteswissenschaften so, siehe www.die-geisteswissenschaften.de. Die Frage, die Menschheit beschäftigt, ob Sprache das Denken prägt, kann man also folgendermaßen beantworten: Sprache ist ein Verweis auf etwas, also eine Struktur, in die ein Erfahrungsraum eingebettet werden kann. Sprache prägt also nicht das Denken, erlaubt aber den Zugriff auf die Inhalte. In der Informatik würde man von einem Pointer sprechen. Der Pointer verweist auf das Objekt, kreiiert es aber nicht. Dass alle Leute jetzt über dieselben Pointer verfügen, heißt noch lange nicht, dass alle auf das zugehörige Objekt zugreifen können. Ohne die persönliche Erfahrung führt der Pointer ins Leere, bzw. verweist auf völlig unterschiedliche Objekte. Die Wörter sind schon da, bevor der Mensch auf die Welt kommt. Ob er sie dann mit Inhalt füllt, bzw. alle Menschen sie mit dem gleichen Inhalt füllen, ist ein ganz anderer Frage. Da irrt Saussure. Nicht alle signifiants führen bei allen Mensch zum gleichen signifié. Bei manchen Leuten führen die signifiants auch schlicht ins Leere. Richtig ist, dass Menschen über Sprache auf komplexe Bewußtseinsinhalte zugreifen können. Das geht zwar auch mit Bildern, es reicht einen Ausschnitt aus einem Film zu sehen, um sich daran zu erinnern, dass man den Film schon Mal gesehen hat, oder mit Gerüchen, die ebenfalls ein erlebtes Szenario ins Gedächtnis rufen können. Berühmt ist die Stelle aus dem Roman von Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, wo dieser unverfälscht in die Vergangenheit abtaucht, als er die Madeleine in den Tee tunkt. Sprache ist allergings die komplexeste Art, auf Bewußtseinsinhalte zuzugreifen. Die komplexe Interaktion zwischen Sprache und Bewußtsein ist also angeboren.