staunen, nicht ärgern

ein rätselhaftes Phänomen: der Patriot

Was hier interessiert ist das Phänomen Nationalismus / Patriotismus als reines Wortkonstrukt, also als Phänomen, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht. Wie bedeutsam dieses Phänomen ist, lässt sich schwer sagen. Einen Anhaltspunkt könnte die Präferenzen für politische Parteien geben, dann wären es z.B. in Frankreich so etwa 30 Prozent, also wenn man Reconquête und Rassemblement National zusammen zählt und in Deutschland 10 Prozent, also die Jungs und Mädels von der AfD. Das sagt aber nichts über die Bedeutung des ziemlich skurrilen Phänomens aus, also dem Phänomen, dass sich Leute für etwas begeistern, das schlicht nicht existiert und nie existiert hat: Die Nation als stabiles Gebilde mit spezifischen, unverwechselbaren Eigenschaften gibt es schlicht nicht und gab es nie. Bei den politischen Parteien, die munter Fähnchen schwenken, geht es eher um Cash; besonders deutlich bei Eric Zemour. Jemand, der 20 Milliarden bei Bürgern ohne französischen Pass einsparen will und diese dann an die Leute, mit französischem Pass verteilen will, eine Art der Umverteilung, für die auch die AFD plädiert, begeistert natürlich die Leute, mit einem französischen bzw. deutschen Pass. Fähnchen schwenken und „on est chez nous“ brüllen, ist da lediglich der ideologische Überbau, aber nicht Kern. Cash auf dem Bankkonto ist jetzt kein reines Wortkonstrukt, dem nichts in der Wirklichkeit entspricht, sondern etwas sehr Konkretes. (Cash ist hierbei nur ein Beispiel. Es geht auch um Wohnraum, Arbeitsplätze, etc. und damit zusammenhängend ein diffuses Gefühl der Bedrohung.) Die Emotionen, die hier entfacht werden, sind nachvollziehbar auch wenn es sich im Grunde um ökonomische Probleme handelt, die nur durch eine stragisch vernünftige Wirtschaftspolitik zu lösen sind. Bei politischen Parteien werden mehrere Phänomene vermischt.

Man könnte versuchen, das Phänomen über eine Sprachkritik zu analysieren, wie sie sich an x Stellen in Goethes Faus findet. Es gibt zahlreiche Stellen in Goethes Faust, die sich mit der Thematik, also mit dem Phänomen, dass es Wortkonstrukte gibt, die durch keine konkrete Erfahrung gedeckt sind, beschäftigt. z.B. das hier:

Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Hier wird Begriff, der durch konkrete Erfahrung gedeckt ist, also einen individuellen Prozess verlangt, dem Wort entgegen gestellt, das lediglich einen Sachbezug zur außersprachlichen Wirklichkeit darstellt. Begriffe wie Liebe, Enttäuschung, Glück, Hoffnung etc. setzen einen Individualisierungsprozess voraus. (Was dazu führt, dass alle Leute mit diesen Begriffen höchst unterschiedliche Erfahrungen verbinden.) Worte wie Nagel, Hammer, Tasse setzen keine Individualisierungsprozesse voraus. Bzgl. der Begriffe kann auch glauben eine Rolle spielen und die Einstellung zu den Zusammenhängen, auf die sich die Begriffe beziehen, kann sich auch im Zeitablauf ändern. Begriffe wie Marktwirtschaft oder Keynesianismus sind Begriffe, keine Wörter, beruhen, in diesem Fall, auf einer intellektuellen Auseinandersetzung, also einem individuellen Prozess. An die Marktwirtschaft bzw. den Keynesianismus, kann man glauben. An einen Tisch, eine Tasse, einen Hammer kann man nicht glauben.

Ist allerdings der Begriff losgelöst von jedem Individualisierungsprozess, dann mutiert der Begriff zum Wort und es wird etwas absurd. Ein Begriff zielt auf ein komplexes System, das hinterfragt werden kann bzw. durch neue Erfahrungen modifiziert werden kann. Wenn Wörter auf ein komplexes System zielen, haben wir es mit etwas zu tun, das statisch ist, weil es von vorneherein losgelöst ist von jedem Individualisierungsprozess.

Allerdings erklärt Goethe auch nicht, wieso es das Phänomen überhaupt gibt. Wie es sein kann, dass Leute sich mit einem reinen Wortkonstrukt identifizieren. Ziemlich oft dürfte das Wortkonstrukt eine Art ideologischer Überbau sein, der höchst konkreten Interessen bewusst oder unbewusst höhere Weihen verleiht.

Ein weiterer Aspekt könnte sein, dass sich Menschen hochgradig in der Fähigkeit unterscheiden, authentische Erfahrungen zu machen. Wer hierzu unfähig ist, ist für Wortkonstrukte anfällig, hat, wie Adorno das ausdrückte, „ein neutralisiertes Bewußtsein, dem es egal ist, woran es sich begeistert.“ Das Problem dürften ziemlich viele Leute haben.

Fraglich ist also, ob das Phänomen Patriotismus / Nationalismus tatsächlich etwas Spezifisches ist oder nicht viel mehr ein Phänomen, das wir auch in anderen Zusammenhängen finden.

Der Patriot erlebt in der Medienlandschaft derzeit eine Renaissance in Form des gesunden Patriotismus. Wenn z.B. bei Fussballweltmeisterschaften die Leute fröhlich Fähnchen schwingend public viewing am Brandenburger Tor machen und vor Begeisterung hin und weg sind, wenn Mesut Özil ein Tor schießt, dann ist das ein gesunder Patriotismus. Wenn braune Horden Fackeln tragend durch das Brandenburger Tor marschieren, ist das Nationalismus. Der Unterschied ist natürlich in der Tat gewaltig. Bei ersterem Event jubeln ja auch Leute mit, die gar keine deutschen Pass haben, aber je nach Präferenzen sich für eine EU Mannschaft entscheiden oder für die Mannschaft, für die sich die Kollegen in der WG begeistern. Es kann da auch eine breite Palette an Hautschattierungen geben. Bei letzterer Variante haben wir es eher mit einer homogenen Gruppe zu tun, die alle arisches oder artverwandtes Blut haben. Der Unterschied ist da wirklich gewaltig, so weit so klar.

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