staunen, nicht ärgern

Des Kaisers neue Kleider

So ging der Kaiser in Procession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Gott, wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich; welche Schleppe er am Kleide hat, wie schön das sitzt!“ Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah, denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht, wie diese.

Das Verhalten wird also ausschließlich ökonomisch erklärt. Aus Angst, sich als inkompetent zu erweisen, sagt niemand die Wahrheit, wobei allerdings das gemeine Volk in der Realität, sehen wir von Diktaturen ab, gar keine Konsequenzen befürchten muss. Von daher vermischt das Märchen zwei sehr unterschiedliche Phänomene. Massenhysterie, also z.B. wenn alle Leute auf einmal z.B. der Meinung sind, dass irgendein Land eine Fußballweltmeisterschaft gewonnen hat, de facto gewinnen ja lediglich die 11 Figuren, die auf dem Platz einer runden Kugel hinterrennen, die anderen schauen von der Couch aus zu, ist was ganz anderes.

Logischer ist dann der Schluss.

„Aber er hat ja nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. ‚Herr Gott, hört des Unschuldigen Stimme!“ sagte der Vater; und der Eine zischelte dem Andern zu, was das Kind gesagt hatte.

Das Kind hat noch keine ökonomischen Interessen und auch noch keinen Ehrgeiz, zu irgendeiner Gruppe zu gehören und folglich auch keine Hemmungen, unmittelbar zu sagen, was es denkt. Das ist dann die Liga „Kindesmund tut Wahrheit kund“, wobei auch dieser Sinnspruch nicht erklärt, warum das so sein soll. Konkret würde es bedeuten, dass der Sozialisierungsprozess den unmittelbaren Zugriff auf die Realität verbaut, weil die entscheidenden Fragen nicht mehr gestellt werden, die Perspektive auf die Realität verzerrt wird oder allgemein im Verlaufe des Sozialisierungsprozesses das Gesichtsfeld verengt wird.

Eine ähnliche Beschreibung finden wir in dem Roman Auf dem Weg zum Leuchtturm von Virginia Woolf. Über Mrs. Ramsay lesen wir da.

Sie wusste davon – sie wußte, ohne es erfahren zu haen. Ihre Unbefangenheit ergründete, was kluge Leute lügnerisch verfälschten. Ihr unverbildeter Verstand verlieh ihr die Gabe, lotrecht niederzufallen wie ein Stein, sich genau am Ziel niederzulassen wie ein Vogel, gab ihrem Geist die natürliche Kraft zum raubvogelhaften Herabstoßen auf die Wahrheit, was Lust bedeutete, Freude, Trost – wenn auch fälschlicherweise.

Während also Mr. Ramsay, ihr Gatte, die Welt durch die Brille seiner Bücher sieht, hat Mrs. einen unmittelbaren Zugang, wobei Mrs. Ramsay allerdings der Meinung ist, dass die illusionslose Begrifflichkeit ihres Gatten näher bei der Wahrheit liegt.

Wie dem auch immer sei. Es scheint wohl relativ viele Leute zu geben, die den Eindruck haben, dass das Märchen einen Sachverhalt beschreibt, andernfalls wäre es kaum so bekannt, auch wenn niemand davon ausgehen wird, dass sein eigenes Verhalten zutreffend beschrieben wird.

 

 

 

 

 

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