Dem widerspricht jetzt vordergründig die Tatsache, dass das Werk in den sechziger Jahren sehr populär war und witzigerweise genau in dem Land, den USA, das in dem Werk als Beispiel für kulturelle Verflachung dient, wobei nicht genau definiert wird, was man unter Verflachung hier konkret zu verstehen hat. Vermutlich wird mit dem Begriff die Ökonomisierung aller Lebensbereiche addressiert, wobei diesbezüglich die Unterschiede zwischen Europa und den USA minimal gewesen sein dürften. Wahrscheinlicher ist, dass es einen Kanon, dessen Beherrschung Zugang zu lukrativen Jobs versprach, in den USA schlicht nicht gab. Der Steppenwolf war Namensgeber der gleichnamigen Hard-Rock-Band und der Film Easy Rider ist von dem Film inspiriert, allerdings dürfte die Rezeption eher auf der antibürgerlichen Attitüde des Romans beruhen, also ähnlich wie bei dem Musical Hair. Die Parallelen zu Goethes Faust dürften aus US-amerikanischer Sicht irrelevant gewesen sein, entscheidend für die Popularität dürften dieselben Themen gewesen sein, die auch dem Musical Hair zum Erfolg verhalfen: Pazifismus, Ausbrechen aus den Konventionen, Angriff auf die herrschende Sexualmoral, Spontanität versus bürgerlicher Statusabsicherung, Umweltverschmutzung, Bewußtseinserweiterung durch Drogen etc.. Diese Aspekte spielen auch im Roman von Hermann Hesse eine Rolle, zentral sind aber im Roman die Innere Zerrissenheit des Protagonisten und genau diese dürfte bei der Rezeption des Romans in den USA, zumal in der Hippie Bewegung, keine Rolle gespielt haben.
Die thematischen Nähe zu Goethes Faust springt in die Augen und offensichtlich sah irgendeine Gruppe von Oberstudienrädern hier einen didaktischen Ansatz, also durch den Vergleich beide Werke zu erschließen und fasste dann den heroischen Entschluss dies zum Gegenstand der Abiturprüfung zu machen. Man kann jetzt eine lange Diskussion führen über die Rezeption von Literatur und wie Literatur rezipiert wird, hängt unter anderem auch ab, von der Erwartungshaltung des Lesers, der Erfahrung des Lesers mit Literatur, der Art der Literatur etc. etc… Schaut man sich jetzt konkrete Kommentare zu youtube videos zum Steppenwolf an, dann scheint aber insebesondere die mangelnde Anschlussfähigkeit an die Lebenssituation zu Problemen zu führen und da helfen die Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Steppenwolf von Hermann Hesse wenig. Der bloße Vergleich macht die Sache nicht anschaulicher.
In beiden Werken haben wir einen Protagonisten, der zwischen zwei Extremen schwankt. In Goethes Faust eben die eine Seele, die sich nach derber Liebeslust sehnt und an der Welt hängt mit klammernden Organen und die andere, die hoch will zu den Gefilden hoher Ahnen; im Steppenwolf die Wolfseele, die nach unmittelbarer Befriedigung sinnlicher Lust strebt und alle Konventionen einreissen will und der Seele, die die Welt durch Vergeistigung tiefer erfahren will. Dem Magischen Theater im Steppenwolf entspricht die Walpurgisnacht in Goethes Faust. In beiden Fällen haben wir eine Auflösung des Ichs.
Die Phantasie in meinem Sinn
ist heute gar zu herrisch
fürwahr wenn ich das alles bin
dann bin ich heute närrisch
(Wer will, kann auch im gesamten Fauss II ein einzig magisches Theater sehen, in dem verschiedene Konstellationen, Faust als Finanzminister am Hof des Kaisers mit einer wirklich erstaunlich modernen Geldtheorie, Faust als Heerführer, Faust, der Land gewinnt und sich dabei noch mal ein Verbrechen leistet etc. etc.)
In beiden Werken haben wir eine Figur, die Faust in das Leben einführt. Mephistopheles, ausgestatte mit einer Menge Mutterwitz, in Goethes Faust und Hermine im Steppenwolf und beide verschaffen den jeweiligen Protagonisten erotische Abenteuer, auch wenn, hier mal 1 zu O für den Steppenwolf, diese erotische Beziehungen im Steppenwolf tiefer geht, als in Goethes Faust. Sowohl Hermine als auch Mephistopheles wollen den innerseelischen Konflikt durch Humor auflösen.
Mein guter Herr, Ihr seht die Sachen,
Wie man die Sachen eben sieht;
Wir müssen das gescheiter machen,
Eh uns des Lebens Freude flieht.
Eine Kritik an der Kulturindustrie, da ist der über 100 Jahre zuvor erschienen Faust prophetischer, findet sich breit im Vorspiel auf dem Theater, auch wenn das Problem in Goethes Faust differenzierter abgehandelt wird. Während im Steppenwolf von Hermann Hessse die Kulturindustrie vollkommen im Leerlauf läuft, erläutert die Lustige Person im Vorspiel auf dem Theater, dass über die reine Unterhaltung auch Brücken gebaut werden können.
Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt
Und nach und nach wird man verflochten;
Es wächst das Glück, dann wird es angefochten
Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran,
Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman.
Laßt uns auch so ein Schauspiel geben!
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
In bunten Bildern wenig Klarheit,
Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit,
So wird der beste Trank gebraut,
Der alle Welt erquickt und auferbaut.