staunen, nicht ärgern

Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert / vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert. Wer garantiert bei Intuition eigentlich die Authentizität?

Im übrigen ist auch gar nicht klar, warum Menschen Geld dafür bezahlen sollen, sich mit dem kollektiv Unbewussten zu beschäftigen. Vermutlich könnte man, wenn man den allgemeinsten gemeinsamen Nenner beschreiben wöllte, sagen, dass Menschen allgemein die Welt als bedeutsam empfinden wollen und spielen gerne auf der ganzen Tastatur des Möglichkeitsraumes, wie schon Friedrich Schiller bemerkte: Denn der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Wallenstein ist ja auch ganz lustig im Theater, aber da sollte er bleiben, das ist die Funktion des Theaters bei Schiller.

An der Schnittstelle zwischen sachlogisch nachvollziehbar, das ist der triviale Teil, und nur noch intuitiv erfassbar, da wird es dann richtig kompliziert, befindet sich, zumindest im traditionellen Roman, bei Virginia Woolf sieht das das ganz, ganz anders aus, die Stelle zwischen Prosa und Lyrik. Beim traditionellen Roman, etwas Emile Zola, haben wir ein Weltbild, in diesem Fall ein naturalistisches, und der Autor gibt sich Mühe, uns davon zu überzeugen, dass die Handlungen der Akteure psychologisch, soziologisch, ökonomisch, religiös oder wie auch immer erklärt werden können, was nicht mal falsch sein muss, aber eine Liga, bei der wir nicht an sprachliche Grenzen geraten und wir im übrigen auf Intuition gar nicht angewiesen sind. Die Trilogie „Waffen für Amerika“ ist ein richtig spannender Roman, wir erfahren da viel über die komplette Unfähigkeit von Ludwig XVI, über die Beziehungen zwischen Frankreich und Österreich, über die Rolle von Benjamin Franklin und vieles andere mehr. Der Inhalt des Romans lässt sich auch mit den Mitteln der Sprache exakt beschreiben. Bei der Lyrik allerdings steht zwischen Sender und Empfänger die Intuition und bei der Lyrik haben wir auch sprachliche Auflösungserscheinungen. Mit sprachlichen Mitteln das Unfassbare zu fassen ist so ähnlich wie eine fliegende Möwe im Flug abzufangen. Die Interpretation in Prosa ist dann genauso wirr, wie das lyrische Original, nur eben lange nicht so präzise. Lyrik ist eine besondere Arte der wirren Präzision. Von dieser Liga ist praktisch der gesamte Faust Goethes. Wir nehmen einfach den Anfang, die Zueignung.

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt;
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.

Beschrieben wird eine Situation, bei der die unmittelbare Realität keine Rolle mehr spielt, ein sehr fokusiertes, freies Assoziieren. Es ziehen vor dem geistigen Auge alle möglichen Weggefährten vorüber, die aber zu dem Zeitpunkt, als sie gemeinsam und im Falle Schillers nebeneinander auf der Erde wandelten, nur unscharf, mit trübem Blick, erkannt wurden und er in der Rückschau wird versucht, die Weggefährten näher zu verstehen. Er stellt dann fest, dass ihn seine Weggefährten doch nachhaltig geprägt haben, sie drängen sich auf, was wohl nur deshalb der Fall ist, weil er sich mit ihnen, auch in hohem Alter, immer noch verbunden fühlt, wobei Herz zu dem Ort wird, wo mangels eindeutiger Alternativen das schwer Fassbare verortet wird. Dass Emotionen mit dem Herz in Verindung gebracht werden, mag physiologische Gründe haben, aber so los gelöst und der Welt entrückt wie der alte Goethe da auf seine Stuhl sitzt, ist kaum anzunehmen, dass er auf einen physiologischen Zusammenhang abstellt. Die Erinnerungen ruft er auch nicht bewusst hervor, sondern er wird von diesen fortgerissen, sie drängen sich ihm auf, wobei sich am trüben Blick nicht viel geändert hat. Nach wie vor versucht er die Bedeutung, den Charakter, die Ziele seiner Weggefährten einzuordnen. So was kommt vor, wenn man in der Rückschau über jemanden nachdenkt. Noch in hohem Alter kann er sich noch ganz auf den unmittelbaren Moment einlassen, von Abgebrühtheit ist noch nichts zu spüren. Die Strophe endet dann so, wie sie angefangen hat. Die Erinnerung an seine Weggefährten sind Schwankend, da er sie immer noch versucht zu deuten, wandelt sie in Dunst und Neben, aber nach wie vor umgibt sie ein Zauberhauch, fesseln ihn also. Vermutlich kann man sowas nur schreiben, wenn man in einer ganz besonderen Stimmung ist, vermutlich hatte er ein Glas Rotwein intus.

Die Authentizität der Intention wird verbürgt durch den Bekanntheitsgrad. Selbst Thilo Sarrazin, ein wahrhaft schlichtes Gemüt, hat es irgendwie bis zu Wanderers Nachtlied von Goethe geschafft: https://www.youtube.com/watch?v=rO_sS1-9iIA

Über allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

Ansatzweise muss da Intuition mal funktioniert haben, das Teil ist Sarrazin aus seiner Schulzeit zumindest vage hängen geblieben. Die Art wie er rezitiert klingt allerdings holprig. Der ist wohl eher für Prosa. Aber immerhin, wenn das Teil selbst bei Sarrazin hängen bleibt, ist die Authentizität der Intuition verbürgt.

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