staunen, nicht ärgern

Die Gesellschaft ist vielleicht nicht Multikulti, aber auf jeden Fall Multiirgendwas und Multiirgendwas ist so was ähnliches wie Multinichts.

Bei der Gruppenbildung haben wir immer so eine Art pars pro toto. Das heißt irgendwas identifiziert eine ganze Gruppe. Nimmt man als die Gruppe konstituierendes Element z.B. die Nationalität, dann haben wir die bekannte Einteilung. Geht es nach Dahrendorf, der Quark wurde früher im Politikunterricht an der Penne durchgekaut, dann ergeben sich die Gruppen nach Einkommen, wobei Vermögen genauso plausibel wäre. Nimmt man die Religionszugehörigkeit, dann hat man relativ wenig Gruppen. Und da man bei ZDF mit dem zweiten Auge besser sieht, bietet sich noch die Wahlentscheidung bei der letzten Bundestagswahl an, die ja letztlich eine Entscheidung für eine Person ist, der man vertraut. Aus welchen Gründen auch immer. In Abhängigkeit vom gewählten Kriterium haben wir also entweder sehr viele Gruppen, z.B. Musikgeschmack, oder eben sehr wenige, z.B. Geschlecht. Soweit so trivial.

Das hat aber alles nicht mit der prächtigen Vielfalt zu tun, die uns in der Realität begegnet und diese ganze herrliche Heterogenität, mit TAUSENDEN von Gruppen finden wir im Internet gespiegelt, wobei wir eigentlich nur im Internet in die Tiefe der Seele der jeweiligen Gruppe blicken können, wobei, und das ist das Kuriose, auf dem tiefsten Grund der Gruppenseele schlicht nichts ist, bzw. da ist irgendwas, das ist aber nicht das, was wir sehen. Es gibt ja ganze Wissenschaften, die sich redlich bemühen, einzelne Individuen zu verstehen. Mit der Methode pars pro toto versteht man schon ein paar Millionen Menschen.

Machen wir uns das mal an einem einfachen Beispiel klar. Über die Divina Commedia hat der Autor dieser Zeilen mal einen sehr umfangreichen Kommentar geschrieben, also Zeile für Zeile erläutert, beschrieben, interpretiert, je nachdem, was gerade passte, das hat ihn ein Jahr beschäftigt: www.divina-commedia.de. Das Teil ist erstmal, sieht man von wenigen Stellen in der Hölle ab, die ganz hübsch sind, vollkommen unverständlich. Vorausgesetzt wird eine sehr, sehr gute Kenntnis der griechischen Mythologie, eine sehr genaue Kenntnis der Geschichte des Mittelalters vor dem 13. Jahrhundert, man muss vertraut sein mit dem ganzen Klatsch und Tratsch des Mittelaters, weil Dante viele Zusammenhänge auch nur vom Hörensagen her kannte, Kenntnisse über die Astronomie des Ptolomäus schaden auch nicht und Thomas von Aquin mit dem ganzen Rattenschwanz dahinter, also Aristoteles und Co, braucht man auch. Also das Teil ist vollkommen unverständlich. Die italienische Jugend wird damit an der Penne drei Jahre beschäftigt, ein Jahr Inferno, ein weiteres Purgatorio und zum Abschluss landet die dann im Paraíso. Danach ist das Thema Dante in Italien durch und das Opus Magnum landet zwar nicht auf dem Scheiterhaufen, bleibt aber auch nicht als besonders inspierierend in Erinnerung. So weit so trivial, kennen wir auch aus anderen Ländern, wo irgendwelche Kultusbehörden auf einer Wolke eine nationale Identität schaffen wollen.

Interessant sind jetzt allerdings die „Rezensionen“ bei Amazon. In dem Stil zieht sich das hin über 614 Rezensionen (!).

 

„Diese Ausgabe ist in Sprache und Layout einfach wunderbar gehalten.
Ergänzt wird das lyrische Werk von einer umfassenden Bebilderung.
Für diesen Preis eine unglaubliche Menge an Papier.
Der Einband ist von der haptischen Beschaffenheit her ein absoluter Gewinn und lässt ein genüssliches Lesegefühl aufkommen.
Ein großes Lob an den Verlag!!!“

„Die Göttliche Komödie ist ein Meisterwerk der Weltliteratur und darf in keiner halbwegs sortierten Bibliothek fehlen.
Es beginnt mit Dantes Inferno, der Hölle, durch die Vergil führt, der den Leser auch mit in das Purgatorio, das Fegefeuer leitet, seine Rolle übernimmt im Paradies (Paradiso) die Jugendfreundin von Dante Alighieri, Beatrice.
Auf der Reise durch Dantes Inferno, Purgatorio und Paradiso stößt der Leser auf diverse Größen der Weltgeschichte und unzählige Seelen, die Reise soll den Weg des Menschen zu Gott und Gottes Liebe darstellen.“

„Schnelle und einwandfreie Lieferung. Alles sehr schön und gut verarbeitet und der Einband mit den goldenen Lettern ist ein echter Hingucker.
Dante ist einfach ein Klassiker, den man gelesen haben sollte. Vielleicht ein wenig anspruchsvoll, aufgrund der alten Sprache, aber definitiv des Lesens wert. Die beigefügten Anmerkungen sind hierbei oftmals sehr hilfreich.“

„Wer ein Fan dieser Bücher ist, wird es lieben. Es ist für Fans ein Muss.“

Dass irgendjemandem die Lektüre der Divina Commedia ein „genüssliches Lesegefühl“ verschafft ist schwer vorstellbar und die Haptik hilft nicht beim Verständnis. Zielführender wäre da eine Version als Hypertext, der die notwendigen Informationen qua link und pop up Fenster liefert. Vermutlich hat Amazon das Buch tatsächlich schnell geliefert, aber bei der Divina Commedia kommt ist es egal, ob die in vier oder sieben Tage im Briefkasten landet. Wir haben es offensichtlich mit einer Gruppe von Leuten zu tun, wo man auf Partys mit Small Talk über „Klassiker“ noch Eindruck schinden kann. So weit so normal und nicht zu kritisieren. Es gibt eben Artefakte, die im öffentlichen Raum präsent sind und Neugierde wecken. Etwas öde und langweilig wird es, wenn an diese Artefakte dieselben Maßstäbe gelegt werden, die auch für Uhren, Autos, Möbel und andere sehr konkret konsumierbare, Güter gelegt werden. Was die Leute erwarten, nämlich dass man die Divina Commedia konsumieren kann wie eine Rindsroulade oder die Pizza, die zeitnah geliefert wird, kann Dante nicht bieten. Sieht man Dante als schön und gut verarbeitetes Möbelstück, als Bestandteil einer gut sortierten Bibliothek, konkurriert die Divina Commedia mit jedem x-beliebigen Buch, das man ungelesen ins Bücherregal stellen kann. Die quantitative Vermehrung führt aber nicht zu einem qualitativen Sprung.

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