staunen, nicht ärgern

Der Baum der Erkenntnis von Pio Baroja und Hoffnung

Im Garten Eden gibt es zwei Bäume, den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens. Die Schlange verführt Eva dazu, vom Baum der Erkenntnis zu essen und Adam wiederum macht, was Eva macht. Danach erkennen sie, was gut und böse ist. Das klingt jetzt erstmal vollkommen absurd, denn was gut und böse ist, sollte man schon erkennen, also bestimmte Verhaltensweisen sollte zumindest Gewissensbisse auslösen. Im Roman von Pio Baroja allerdings wird der Geschichte eine ganz andere Bedeutung gegeben. Die absolute Abwesenheit von Skrupeln aller Art, ist dort dem Leben förderlich. Den ganzen Roman hat der Autor dieser Zeilen mal übersetzt, siehe https://www.spanisch-lehrbuch.de/uebungen/level3_hoerverstaendnis/literatur/arbol_de_la_ciencia/baroja_29.html. Ich fasse den Dialog zwischen Andrés Hurtado und seinem Onkel Iturrioz mal zusammen, wer das Orginal haben will, in Spanisch oder Deutsch, sei auf den Link verwiesen. (An diese Geschichte wiederum knüpft dann der ganze Kokolores mit der Erbsünde an, den Quark lassen wir jetzt mal weg.)

Andrés Hurtado, der Protagonist des Romans und seines Zeichens Arzt, ist vollkommen gefangen in der erbärmlichen Wirklichkeit, die ihn umgibt und vollkommen desillusioniert. Auf ihn trifft zu, was Mephistopheles in Goethe Faust über Faust sagt:

Mein guter Herr, Ihr seht die Sachen,
Wie man die Sachen eben sieht;
Wir müssen das gescheiter machen,
Eh uns des Lebens Freude flieht.

Mit „gescheiter machen“ meint Mephistopheles, dass man sich Illusionen hingibt und sich über den wahren Charakter des Lebens täuscht. Dass sich die Menschheit überhaupt noch vermehrt, erklärt sich Andrés Hurtado dadurch, dass die Menschheit letztlich auf einem animalischen Niveau stecken geblieben ist und sich über den wahren Charakter der condition humana mittels Illusionen hinwegtäuscht. Je mehr die Erkenntnis zunimmt, desto schwächer wird die Fähigkeit, sich über den wahren Charakter des Lebens hinwegzutäuschen.

Das Individuum oder das Volk, das leben will, umhüllt sich sich mit Wolken,
wie die antiken Götter, wenn sie den Sterblichen erschienen.
Der Lebensinstinkt braucht die Fiktion, um sich zu bestätigen.

aus: Pio Baroja, Der Baum der Erkenntnis

Sein Onkel Iturrioz sieht hier Parallelen zu Genesis 3 des alten Testaments.

„„Ja, ich lache, weil das, was du mir mit Worten von heute sagst,
nichts anders ist, als das, was in der Bibel steht.“
„Bah!“
„Ja, in der Genesis. Du wirst ja wohl gelesen haben, dass es inmitten
des Paradieses zwei Bäume gab, den Baum des Lebens und den Baum der
Erkenntnis von Gut und Böse. Der Baum des Lebens war riesig, dicht
belaubt, und, laut einiger heiliger Väter, verlieh er Unsterblichkeit.
Wie der Baum der Erkenntnis war, sagt man nicht, möglicherweise war
er dürftig und traurig. Und du weisst, was Gott zu Adam sagte?“
„Nein, ich erinnere mich tatsächlich nicht.“
„Nun, als er Adam vor sich hatte, sagte er zu ihm:
Du darfst von allen Früchten des Gartens essen; hüte dich aber
vor den Früchten des Baumes der Wissenschaft von Gut und Böse,
weil du an dem Tag sterben wirst, an dem du seine Frucht isst. “

Das Erkennen von Gut und Böse interpretiert sein Onkel Iturrioz also als die kritische, desillusionierende Reflexion über das Leben. Ein Gedanken, den Andrés Hurtado dann weiterspinnt. Wer über das Leben uns seine Widersprüche nicht nachdenkt, ist gesünder. Hat keine Skrupel, keine Gewissensbisse, keine Zweifel, keine Scham, interessiert sich, wie das Tier, nur für seine Selbsterhaltung. Tatsächlich findet sich in der Bibel keine Beschreibung der Bäume, interpretiert man die Bibelstelle allerdings so, wie Iturrioz das tut, dann ist es plausibel, dass der Baum des Lebens prächtig gedeiht, während der Baum der Erkenntnis von Zweifeln zerfressen fast verdorrt ist. So was finden wir auch schon in Goethes Faust.

Ein Kerl, der spekuliert,
Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide
Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
Und rings umher liegt schöne grüne Weide.

aus: Faust von Johann Wolfgang von Goethe

Der Dialog zwischen Andrés Hurtado und seinem Onkel Iturrioz mäandert ein wenig. Nachlesen kann man das hier: https://www.spanisch-lehrbuch.de/uebungen/level3_hoerverstaendnis/literatur/arbol_de_la_ciencia/baroja_29.html. Auf der einen Seite konstatiert er, dass der Mensch „Illusionen“ braucht:

Das gesunde, lebhafte, starke Individuum sieht die Dinge nicht so, wie sie
sind, weil es ihm nicht passt. Es befindet sich in einer Sinnestäuschung.
Don Quijote, dem Cervantes einen negativen Sinn geben wollte, ist das Symbol
der Lebensbejahung. Don Quijote lebt mehr als alle vernünftigen Menschen
um ihn herum, er lebt mit mehr Intensität als die andern. Das Individuum
oder das Volk, das leben will, umhüllt sich sich mit Wolken, wie
die antiken Götter, wenn sie den Sterblichen erschienen.
Der Lebensinstinkt braucht die Fiktion, um sich zu bestätigen.

Auf der anderen Seite bezeichnet er es als die Aufgabe der Philosophen, die Menschheit von eben diesen Illusionen zu befreien, wobei er aber nicht so richtig erklärt, was dann noch übrig bleibt. Im großen und ganzen braucht man auf die Exkursionen von Andrés Hurtado nicht allzuviel zu geben, weil diese lediglich seine Stimmungen wiedergeben. Auch seine Vorträge über die Liebe sind von einer Grundstimmung geprägt. Mit Lulu hellt sich seine Stimmung auf und seine Einstellung zum Leben ändert sich. Wie bei jedem depressiven Charakter ist das Glas eben immer halb leer, was der depressive Charakter für eine adäquate Beurteilung der Lage hält. Bei weniger depressiven Zeitgenossen ist das Glas eben immer halb voll, wobei auch das eine Fehleinschätzung sein kann. Bei beiden Varianten geht der Horizont verloren. In dem einen Fall, bei dem depressiven Charakter, ist gar kein Horizont da und bei dem anderen ist der Horizont öfter mal eher eine Fata Morgana und springt insbesondere öfter mal zu kurz. Bei der Hoffnung, die nach dem bekannten Kalauer zuletzt stirbt, kann man enttäuscht werden. Von dieser Art von Hoffnung wird erwartet, dass sie sich mit konkreten Tendenzen in der Wirklichkeit verbindet, meistens mit Tendenzen, die sich aus einer individuellen Situation ableiten. Diese Art von Hoffnung wird ziemlich oft enttäuscht. Die Hoffnung im Sinne eines Vorscheins auf den vollkommenen Augenblick hält lediglich die Möglichkeit des Gelingens fest, ohne dass die Möglichkeit sich konkret mit Tendenzen in der Wirklichkeit verbündet sein muss. Auch diese Hoffnung kann scheitern, nämlich dann, der Vorschein auf die Möglichkeit des Gelingens nicht mehr in der Welt ist, was bei Leuten wie Maaßen, Höcke, Weidel, Gauland und wie die ganzen Figuren sonst noch so heißen, der Fall ist. Auf niedrigem Niveau ist schlicht jedes Problem auf dieser Welt lösbar, siehe https://theatrum-mundi.de/was-ist-eigentlich-konkret-falsch-an-dem-geblubbere-von-sarrazin-maassen-chupralla-weidel-etc/. Kompliziert, technisch und organisatorisch, wird es erst, wenn ein Problem auf hohem Niveau gelöst werden soll. Die Jungs und Mädels haben es zwar viel mit deutscher Kultur und Tralala, aber das Wesen des Übervaters der Kultur der Teutonen, also Friedrich Schiller, scheint sich denen nicht erschlossen zu haben.

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