staunen, nicht ärgern

Wortschöpfung in Zeiten von Corona: Der Impfling

Corona beschert uns eine ganze Latte neuer Wörter, manche Wortbildungen sind mehr oder weniger erklärbar, siehe hier https://theatrum-mundi.de/wortschoepfungen-in-zeiten-von-corona-verimpfen-und-eintrag/, und andere, wie der Impfling, sind echte Kuriositäten.

Der Impfling steht sogar im Duden, allerdings mit zwei völlig verschiedenen Bedeutungen: zu impfende Person oder jemand der schon geimpft ist. Google liefert vergleichsweise wenig Treffer, 104 000. Das ist nicht viel.

Auffallend ist, dass die Endung -ling gar kein produktives System ist. Was es an Wörtern mit dieser Endung gibt, ist lexikalisiert: Lehrling, Jüngling, Sonderling, Flüchtling, Weichling etc.. Als produktives System wäre es eigentlich nicht schlecht und würde die Möglichkeiten erweitern: meckern => Meckerling, weinen => Weinling etc.. Mit manchen Verben geht es sogar, die sind dann an der Kippe zu lexikalisiert und erhalten eine Nebendeutung. Der Schreiberling ist nicht gerade der von den Musen geküsste Poet. Aber die üblichen -ling Wörter haben eines Gemeinsam: Sie beschreiben einen ZUSTAND. Der Impfling allerdings ist so eine Art Passiv, bzw. kann auch Passiv sein, ist also jemand, der geimpft werden muss. Besonders präzise ist das allerdings nicht, denn so gesehen sind wir ja alle Impflinge. Entweder sind wir schon geimpft oder wir werden geimpft. Kein Impfling sind dann nur die Leute, die aus irgendwelchen Gründen nie geimpft werden. Der Meckerling passt weit mehr in die Reihe wie der Impfling.

Wieso jetzt der Impfling auch schon geimpft sein kann ist etwas schleierhaft, denn dieser Impfling ist schlicht ein Geimpfter. 40 Prozent der Bevölkerung sind Geimpfte, den Rest könnte man dann mit Impflinge bezeichnen, was ja vermutlich auch gemeint ist, wenn der Begriff verwendet wird, der Duden irrt da wohl. (https://www.duden.de/rechtschreibung/Impfling).

Aber unabhängig davon, kann man sich fragen, wieso ein nicht produktives System auf einmal wieder produktiv wird. Das Problem ist wohl das gleiche, wie bei verimpfen. Entsteht ein Lücke im Lexikon groß wie ein Scheunentor, wenn also ein Wort dringend gebraucht wird, dann wird irgendein System reaktiviert, weil die komplette Neuschöpfung eines Wortes nicht möglich ist und mögliche Alternativen filtert das Gehirn schon raus, bevor wir überhaupt auf die Idee kämen, auf diese Alternativen zurückzugreifen. Die Endung -er ist z.B. produktiv, Schreiber, Rechner, Leser, Versteher, Denker etc. beschreiben Tätigkeiten. Also Impfer geht nicht, das wäre derjenige, der die Impfung verabreicht. Das Gehirn denkt also in gewaltigen Assoziationsräumen, wie immer sich diese auch konkret bilden.

Wir haben zwar ein breite Palette an produktiven Systemen, z.B. -schaft (Genossenschaft, Wirtschaft, Leibeigenschaft), -heit (Herrlichkeit, Fröhlichkeit, Besonderheit), -tum (Eigentum, Volsktum, Brauchtum) etc. etc.. aber nichts passt. Die Impfschaft wäre die Institution, die Impfungen verabreict, parallel zur Ärzteschaft, das Impftum, würde die Impfung als Tradition beschreiben, die Impfheit wäre eher eine Krankheit.

Wir brauchen hier aber eine Endung die dem Substantiv eine passivische Bedeutung gibt. Wir bräuchten also sowas wie das lateinische Gerundivum, allerdings als Substantiv, also etwas in der Art wie „die zu impfenden“, aber realisiert mit einem Suffix. Die Lateiner machen daraus wahrscheinlich etwas der Art „Menschen, die zu impfen sind“. Noch schicker wäre es natürlich in einem Wort mit einem Suffix. Als z.B. -undur. Dann wären die Impfundur die, die zu impfen sind, die Belehrundur, die, die zu belehren sind, die Beschreibundur, die, die zu beschreiben sind. Das wäre ein hochgradig effizientes System und der Autor vermutet, dass es Sprachen gibt, die sowas machen.

Im Deutschen und in den romanischen Sprachen haben wir jetzt hier eine Lücke, deshalb rückt der -ling ein. Der -ling ist zwar suggestiv und verweist auf einen Zustand, das hat ja den Duden verwirrt, aber diese Bedeutung ist beim Impfling immerhin so schwach, dass die Bedeutung „der / die zu Impfende“ nicht ausgeschlossen ist. Das passende Suffix ist nicht im Angebot und deshalb wird die nächst beste Alternative gewählt, obwohl diese Alternative die zentrale Idee, nämlich das Passivische, gar nicht enthält.

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