Worin könnte also der Überschuss der Literatur im Vergleich zu Radio, Fernsehen, digitale Medien, dieser Überschuss wäre ja das meritorische Gut, bestehen? Hiermit sind wir schon bei der nächsten Frage, die wir so einfach gar nicht beantworten können. Filme und Bücher haben völlig unterschiedliche Möglichkeiten, in jeder Hinsicht, ästhetisch, im Hinblick, wie etwas dargestellt werden kann, im Hinblick, was dargestellt werden kann, im Hinblick auf die Psyche des Betrachters etc.. Die Diskussion können wir hier nicht führen. Es kann auch umgekehrt sein. Es kann einen Überschuss des Films gegenüber dem Buch geben. Wollen wir allerdings ein vollständiges Bild haben, müsste man auch noch die Musik dazu nehmen und die Malerei. Man könnte theoretisch das Fach Deutsch (bzw. español im spanisch sprechenden Raum, italiano in Italien, francais in französisch sprachigen Ländern oder english im angelsächsischen Raum) schlicht abschaffen und durch Kultur ersetzen. Gegenstand dieses Faches wären dann Artefakte aller Art, die für die Menschheit bedeutsam sind, bzw. sich in das kollektive Bewußtsein der Menschheit eingegraben haben. Ist das der Fall, dann kommt dem Werk eine Bedeutung zu, ist die Authentizität verbürgt, aus welchen Gründen auch immer. Weltberühmt z.B. ist die kleine Seejungfrau von Andersen, die an ihrer Liebe zum Prinzen letztlich zerbricht. Im Einzelfall können sich Dinge auch falsch ins kollektive Bewußtsein einprägen. Unter „Gegen Windmühlen kämpfen“ verstehen viele Leute so, dass jemand einen Kampf aufnimmt gegen einen übermächtigen Gegner, den er nur verlieren kann, bzw. gegen Verhältnisse anrennt, bei denen von vorneherein klar ist, dass er sie nich ändern kann. Im Orginal, also bei Cervantes, ist das anders. Quijote kämpft nicht gegen einen Feind, denn die Windmühlen sind keiner. Don Quijote hat das Problem, dass er Held sein will in einer Welt, die gerade mal keine Helden braucht.
Wir brechen die Diskussion hier also ab und fragen uns nur noch, was das Spezifische an Literatur ist. Die Frage wurde aber bereits diskutiert, siehe https://theatrum-mundi.de/aesthetisches-empfinden-und-sprache/. Hier kann man finden, dass die „Klassiker“ hier wesentlich sprachgewaltiger sind als die Werke, die geistig, räumlich und zeitlich anschlussfähiger sind an den Erfahrungshorizont des heutigen Lesers, was im übrigen auch die Leute finden, die die Bedeutung des Gesamtwerkes gar nicht erfassen. Vielen Leuten ist z.B. gar nicht klar, dass viele Redewendungen, die sie benutzen, aus Goethes Faust stammen. (Grau mein Freund ist alle Theorie / und grün des Lebens bunter Baum, Was besseres suche zu beginnen / des Chaos wunderlicher Sohn, Du gleichst dem Geist / den du begreifst nicht mir, Oh glücklich wer noch hoffen kann / aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen, Du siehst mit diesem Trank im Leibe / bald Helena in jedem Weibe, was glänzt is für den Augenblick geboren / das Ewige bleibt der Nachwelt unverloren etc. etc..) Die Redewendungen, ein reichhaltiger Steinbruch sind auch noch die Werke Schillers, werden verwendet, weil sie sprachgewaltig zu verschiedenen Situationen passen, wenn auch nicht unbedingt der Kontext der ist, in den sie im Original eingebaut waren.
Unter Umständen kann man sagen, dass Sprache einen Moment der Erschütterung, welcher Art auch immer, intensiver festhält. Im Gegensatz zum Film, Bild oder Musik, die durch die Sinne an uns herantreten und über die Sinne wirken, ist Sprache rein innerlich. Wir können uns schweigend mit uns selbst unterhalten und die Sprache ist der Pointer, der die Bewußtseininhalte wieder abruft. Möglicherweise kann über diesen Weg Literatur, und vor allem Lyrik, die Persönlichkeit stärker prägen, als Filme, Musik oder Bilder. Man braucht Sprache nicht zum denken, aber Wörter verweisen auf Assoziationswolken, auf die wir ohne Sprache nicht zugreifen können. Niemand kann z.B. über Hoffnung nachdenken, wenn er kein Wort hat, dass auf die Assoziationswolke verweist, die mit dem Begriff verbunden ist. Sollte es tatsächlich so sein, dass Sprache, insbesondere Lyrik, unsere Erfahrungsfähigkeit steigern kann bzw. den Möglichkeitsraum unserer Vorstellungen erweitern und dauerhaft festhalten kann, die Persönlichkeit also stärker prägt, als der Film, dessen Wirkung rasch verblasst, dann hätten wir in der Literatur tatsächlich, so denn die Inhalte bereichernd sind, tatsächlich ein meritorisches Gut.