staunen, nicht ärgern

Soll man in der Schule den Roman lesen oder das Video dazu schauen?

Sagen kann man weniges, aber immerhin das. Ein Film rollt gnadenlos durch, ob man einschläft ist völlig egal. Es bleibt auch keine Zeit, über irgendwas, die Figuren, die Handlung, die Landschaft oder was auch immer länger nachzudenken, denn wenn man das tut, verpasst man die Hälfte. Ein Film muss also immer relativ dicht an dem sein, was der Zuschauer schnell und spontan erfassen kann, was nicht mal oberflächlich sein muss. Die Szene in dem Film Doktor Schiwago, wo er ziemlich angeschlagen Lara aus dem Bus heraus sieht, aber diesen nicht verlassen kann und schließlich stirbt, kann sich einprägen; oder der Tanz mit den Schuhen im Film Goldrausch von Charlie Chaplin. In der Regel ist die emotionale Involviertheit bei Filmen sogar größer als bei Romanen, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Bei A Iscrava Isaura, ein Roman von Bernardo Guimarães, habe ich mal übersetzt, https://www.portugiesisch-lehrbuch.de/content/literatur/inhaltsangabe.htm, würde der Leser Leoncio schon den Hals zudrehen, wenn er ihn in die Finger bekäme. Liegt aber auch wohl daran, dass man Parallelen zieht zum Nationalsozialismus. Diese Stärke des Films, die Tatsache dass er leichter konsumierbar ist als das Buch, ist aber gleichzeitig seine Schwäche, wobei diese Manko Schülerkohorten nicht interessiert.

Bücher sind so eine Art Gesprächspartner. Gegenüber realen Gesprächspartner haben sie echte Vorteile. Interessante Gestalten, die die Welt mal gegen den Strich bürsten, trifft man in der Realtiät eher selten. Bücher, die diesen Ansprüchen genügen gibt es allerdings massenhaft. Das Problem ist nur, die meisten Leute wollen die Welt gar nicht mal ordentlich gegen den Strich bürsten, was wiederum nachvollziehbar ist, weil niemand so richtig erklären kann, was man eigentlich davon hat. Es besteht also eher die Tendenz, schwierigen Gesprächspartner, auch die in Buchform, erstmal zu meiden. Die Metapher von dem Berg, den man erst erklimmen muss, um dann einen gewaltigen Ausblick zu haben, überzeugt auch niemanden. Sicher ist nur, dass der Berg steil ist. Ob es hübscher ist runter als rauf zu gucken, ist unklar. Wie dem auch immer sei, wer ein Buch in die Hand nimmt ist konzediert, dass er eher auf Situationen, Konstellationen, emotionale Befindlichkeiten trifftt, die weiter von dem entfernt sind, als das, was er spontan erfasst. Das trifft eingeschränkt sogar auf Bücher zu, die sich dezidiert an ein bestimmtes Publikum richten und deren Erwartungshaltung befriedigen wollen und davon gibt es eine ganze Menge. Für alle möglichen Zielgruppen werden Bücher produziert, Liebesromane einer bestimmten Art, Kriminalromane, Jugendbücher, Gesellschaftskritik etc. etc.. Verlage sind spezialisiert und versuchen möglichst dicht an den Ewartungshorizont ihrer Klientel heranzukommen, allerdings mit schwindendem Erfolg, da der Film, das liegt in der Natur dieses Mediums, immer spontaner erfasst werden kann, als das Buch. Es gibt eine Menge Leute, die bis zu fünf Stunden am Tag am Smartphone oder vor der Glotze hängen, aber nur ziemlich wenig Leute, die fünf Stunden am Tag lesen. Will das Buch auf dieser Ebene mit dem Film konkurrieren, hat es die Schlacht eigentlich von vorneherein verloren. Wer es nicht glaubt, möge öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Vor langer, langer Zeit lasen die Leute in Bus, Bahn, etc. noch Zeitungen und Bücher. Sollte man heute jemanden sehen, der dort ein Buch liest, dann unbedingt mit dem Smartphone fotografieren und bei Facebook hochladen. So was hat Seltenheitswert. Es kommt zwar zu immer größeren Kooperationen zwischen Buchverlagen und Presseverlagen, manchmal kaufen letztere erstere schlicht auf und manche Verlage haben auch einen guten Draht zu Rundfunkanstalten privater und öffentlicher Natur und können in einem gewissen Umfang ein Buch in den Markt drücken, aber insgesamt in der Drops gelutscht. Der Versuch das Buch an den spontanen Erfahrungshorizont des Konsumenten anzupassen endet damit, dass der Konsument von vorneherein das Medium nimmt, also den Film, das ohnehin spontaner erfasst werden kann. Einfacher ausgedrückt: unterhaltsamer ist.

Nochmal, damit keine Missverständnisse entstehen. Bei der erdrückenden Mehrheit der Erdenbewohner wird das Bewußtsein durch den Alltag geprägt, also eben auch durch Unterhaltung, die man mehr oder weniger mühelos so mitnimmt. Steht so auch schon bei Goethe, bei dem steht ja bekanntnlich alles, was man irgendwie wissen muss.

Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt
Und nach und nach wird man verflochten;
Es wächst das Glück, dann wird es angefochten
Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran,
Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman.
Laßt uns auch so ein Schauspiel geben!
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
In bunten Bildern wenig Klarheit,
Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit,
So wird der beste Trank gebraut,
Der alle Welt erquickt und auferbaut.

Goethe, Faust: Vorspiel auf dem Theater

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