Was will der Autor eigentlich sagen? Die Funktion der Literatur und deren Autoren an und für sich hat sich in den letzten 200 Jahren eigentlich nicht geändert. Sie mischen sich ein in politische Debatten, Zola mit „J’accuse“ z.B. in die Dreyfus Affäre, Martin Wilser in „Finks Krieg“ in Machenschaften innerhalb der hessischen Regierung 1980; sie halten der Gesellschaft den Spiegel vor, Stendhal in „Le Rouge et le Noir“ und Heinrich Böll in „Ansichten eines Clowns“; sie entwickeln Gegenmodelle zur Gesellschaft und beschreiben Figuren, die durch ungewöhnliches Verhalten mal ein Problem lösen und andere, die durch gewöhnliches Verhalten eine Menge Probleme schaffen. Man kann, naheliegenderweise, sein ganzes Leben damit verbringen, die Entwicklung der Literatur in sprachlicher, psychologischer, soziologischer, ökonomischer, künstlerischer Hinsicht zu analysieren. Man kann sich auch darüber wundern, dass die verschiedenen Bewegungen, etwa Aufklärung, Naturalismus, Realismus, Romantik, Expressionismus weltweite Bewegungen sind und sich meistens auch über mehrere Kunstgattungen ausbreiten. Ändert aber nix an einer fundamentalen Tatsache. Seit Ende des zweiten Weltkrieg konkurrieren die dicken Schmöcker mit neueren technischen Entwicklungen: dem Fernsehen, das war schon eine ernsthafte Konkurrenz, und seit dem Ende der neunziger Jahre mit digitalen Medien aller Art, woraus sich dann eine entscheidende Frage ergibt. Ist Literatur überhaupt noch das relevante Medium? Und zweitens: Sind die Werke, mit einer größeren geistigen, örtlichen und zeitlichen Distanz bedeutender?
Misst man rein den Konsum, ist das Buch weit abgeschlagen, siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/165834/umfrage/taegliche-nutzungsdauer-von-medien-in-deutschland/. Vier Stunden am Tag verbringt der Durschnittsteutone vor der Glotze, 91 Minuten hört er Radio, 83 Minuten ist er online. Beim Buch verweilt er 25 Minuten Tendenz fallend. Die Zahlen sind ein bisschen komisch, zählt man das zusammen, kommt man auf fast 10 Stunden Mediennutzung. Also mit Seele baumeln lassen, Sport, mit Freunden Spaß haben etc. hat es der Durchschnittsdeutsche nicht so. Der geht arbeiten, hockt vor irgendwelchen Geräten und steigt dann total ermattet in die Kiste. Anders formuliert: Keine Ahnung, ob die Zahlen stimmen und was sie konkret bedeuten. Vermutlich schlafen manche Leute vor der Glotze ein, das Smartphone ist online, liegt aber friedich auf dem Tisch und beim Radio hören, räumen die Leute die Küche auf. Aus den Daten des deutschen Buchhandels, 25 Prozent der Deutschen lesen bis zu fünf Bücher im Monat können wir auch keine Rückschlüsse ziehen. Der Buchhandel weiß maximal, wie viele Bücher gekauft werden. Ob die dann auch gelesen werden, ist ein ganz anderes Thema und wir wissen auch nicht, wie dick die Bücher sind. 5 Mal Tolstoi, Krieg und Frieden oder Anna Karenina macht 5000 Seiten. Das liest niemand in einem Monat. Wie dem auch immer sei. Von der Tendenz her stimmt es wohl. Das Buch ist gesellschaftlich ein Posten unter ferner liefen.
Wenn der Staat also unter diesen Auspizien das Buch fördert, insbesondere durch dessen Verankerung in der institutionalisierten Bildung, und vor allem eben die Art von Literatur fördert, die geistig, örtlich und zeitlich sich außerhalb dessen befinden, was dem Erfahrungshorizont des Lesers spontan zugänglich ist, dann müsste er nachweisen, dass es sich um ein meritorisches Gut handelt, um ein Gut also, dass einen gesellschaftlichen spill over effect hat, die Gesamtgesellschaft also davon profitiert, wenn davon mehr konsumiert wird. Dieser Nachweis fehlt komplett, die Ausführungen der Kultusministerkonferenz hierzu sind derartig dünn, dass man sich schon mal fragen kann, ob sich die Jungs und Mädels irgendwann mal mit Literatur beschäftigt haben bzw. über irgendeine Form von Hintergrundwissen verfügen.
Die Schülerinnen und Schüler erschließen sich literarische Texte von der
Aufklärung bis zur Gegenwart und verstehen das Ästhetische als eine spezifische
Weise der Wahrnehmung, der Gestaltung und der Erkenntnis. Sie verfügen über
ein literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickswissen, das Werke
aller Gattungen umfasst, und stellen Zusammenhänge zwischen literarischer
Tradition und Gegenwartsliteratur auch unter interkulturellen Gesichtspunk-
ten her.
Die Kultusministerkonferenz stellt also Fest, dass es in der Literaturdidaktik an Schulen darum geht, sich mit Literatur zu befassen. Wer hätte das gedacht? Weiter wird festgestellt, dass es bei der Literatur ästhetischen Aspekte und gestalterische Elemente eine Rolle spielen und der Erkenntnis förderlich sind. Also bei den Jungs und Mädels, die da getextet haben, ist an der Penne wirklich mächtig was schief gelaufen. Man nicht verpflichtet, hohe Erwartungen an die Literatur zu stellen, stellt man sie aber, so wie eine Anforderung, dass jedes Wort und jeder Satz von Erfahrung getränkt ist, denn das unterscheidet Literatur von Phrasendrescherei und Geschwätz. Geschwätz ist etwas, was man auch hervorbringen kann, wenn das Gehirn eigentlich irgendwo ganz woanders weilt, die Phrase kann man sogar vollständig automatisiert produzieren. Die Kultusministerkonferenz hilft uns also nicht wirklich weiter.