[Das Thema hat der Autor dieser Zeilen schon mal aus eher wissenschaftlicher Sicht durchdekliniert: https://www.die-geisteswissenschaften.de. Dort geht es um die Rolle der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft, also unter anderem um die Frage, warum und ob der Staat für die institutionelle Verankerung des „Geistes“ Jahr für Jahr ein paar Milliarden Euro austüten soll. Dieser längere Essay beschäftigt sich den Leuten, die eigentlich dafür bezahlt werden, den „Geist“ anschlussfähig zu vermitteln und mit welcher Zielsetzung. Hier geht es eher um den „Geist“ im Alltag.]
So, jetzt wird es kompliziert, bzw. wenn man lange darüber nachdenkt, wird es kompliziert. Aus der Sicht der Schüler ist der Fall klar. Roman in die Tonne und Video gucken. Bei den Lehrern weiß man nicht, da gibt es noch Ambitionierte, aber vermutlich denken auch viele im Stillen Video, hat man zwei Stunden seine Ruhe und das Ergebnis ist so in etwa das gleiche. Gibt ja zu jedem Schmöcker eine ERWARTUNGSHORIZONT, definiert durch die Kultusministerkonferenz in den Rahmenlehrplänen, das kriegt man auch mit dem Video hin und auf youtube gibt es jetzt zu jedem Schmöcker auch die Verfilmung und im übrigen gibt es ja die Zusammenfassung bei Wikipedia. Also bis dahin ist die Sache einfach.
Schwieriger zu beantworten ist eigentlich eine ganz andere Frage. Neuerdings wird konstatiert, dass das Volk der Teutonen, gilt aber auch für die Gallier, den Stamm der Angelsachsen, der auf einer Insel haust und die Überbleibsel der Westgoten und Keltiberer, dass die Leute immer weniger lesen. Lesen, in den Statistiken des deutschen Buchhandels, wird dann gemessen wie die Wurst an der Fleischtheke. Irgendwie logo. Beim Börsenverein des deutschen Buchhandels geht es um Umsatz, ob das Rilke ist oder Rosamunde Pilcher ist scheißegal. Also 25 Prozent der Teutonen lesen gar nicht, 25 Prozent lesen fünf Bücher im Monat und der Rest dann halt alles, was dazwischen liegt.
Nach der Logik des Buchhandels kommt es vor allem auf die Menge an Seiten an. Das ist eine Perspektive, die ein persischer Dichter mal so kommentierte.
Ein Schüler kommt zu seinem Lehrer und will gelobt werden,
weil er viele Bücher gelesen hat. Darauf antwortet ihm der
Lehrer, dass sich Gesundheit nicht daran messe, wieviel man
gegessen hat, sondern wieviel man verdaut hat.
Um das Buch ranken sich jetzt, das ist in der animierten Fassung nicht so, eine unendliche Fülle an Mythen, was auch daran liegen kann, dass Bücher selbst die Leute tiefer beschäftigen als das Video, die in ihrem ganzen Leben nur sehr wenige Exemplare davon in der Hand hatten. Die ganz nüchterne Frage in dieser unserer utilitaristischen Welt lautet also schlicht: Hat das Buch einen Überschuss, den das Video nicht hat? Diese Frage wiederum zerfällt in eine Menge Einzelfragen, die Trivia machen wir kurz und bündig.
Videos haben einen Vorteil gegenüber dem Buch. Man kann dabei schlafen; youtube nudelt einfach weiter. Der Aussage, dass man sich an einen Roman eher erinnern kann als an dieselbe Erzählung in animierter Form werden wohl, zumindest die, die sich jemals auf das Abenteuer des gedruckten Buches eingelassen haben, zustimmen. Lesen erfordert Konzentration und was man konzentriert macht, bleibt länger hängen. Vermutlich wird ein Roman in animierter Form auch gar nicht vollständig verstanden, aber das stört bei einem Video niemanden. Bei einem Video fällt vielen Leuten vermutlich nicht mal auf, dass sie einzelne Personen gar nicht mehr richtig einordnen können bzw. manche Handlungsstränge gar nicht klar sind. Bei einem Roman verliert man den Faden und blättert unter Umständen zurück.
Was also die Konsumierbarkeit angeht, steht es eindeutig 1 zu O für das Video, womit sich dann schon die nächste Frage stellt. Hat das Buch, also das geschriebene Wort, etwas, was das Video nicht hat. Hat es nichts dergleichen, hat das Buch verloren. Es wäre dann weniger unterhaltsam, anstrengender, hätte aber keine Vorteile. Es wird jetzt noch schwieriger, denn die Frage lässt sich so eindeutig gar nicht beantworten.
Es gibt Werke, z.B. Ullyses von James Joyce, To the lighthouse von Virgina Woolf, A la recherche du temps perdu von Marcel Proust, Conversación en la Catedral von Mario Vargas Llosa, Una Vita von Italo Svevo etc. etc. die sich entweder gar nicht verfilmen lassen oder der Film etwas ganz anderes daraus macht. A la recherche du temps perdu, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust z.B. ist von Volker Schlöndorff verfilmt worden, allerdings ist das bei Volker Schlöndorff eher ein opulentes Sittengemälde, das impressionistisch angehaucht dargestellt wird. Bei dem Buch geht es um das „Erkenne dich selbst“ und um Authentizität. Das heißt bisher noch nichts, anders heißt weder schlechter noch besser. Es ist nur anders. Der Film die Brüder Karamasow nach einem Roman von Dostojewky hat mit dem Roman nicht mehr viel zu tun, aber Yul Brynner als Iwan und Maria Schell als Gruschenka, das hat was. Noch deutlicheres Beispiel. Der Film Doktor Schiwago von Boris Paternak. Berühmtheit erreichte nur der Film, nicht der Roman.