staunen, nicht ärgern

Die Muse muss den Sender UND den Empfänger küssen, sonst klappt das nicht

Bei Virginia Woolf finden wir immer mal wieder Sätze dieser Art.

„Er sprach mit voller Überzeugung, für ihn, wenn auch nicht für uns, sind seine Worte wahr.“

Vordergründig ist der Satz natürlich maximal trivial. Jemand hat, unter Umständen sachlogisch gut begründet, eine Meinung zu irgendwas und eben diese Meinung wird von den anderen nicht geteilt. Die Aussage wäre dann maximal trivial. Wenn wir aber wissen, mit wem wir es zu tun haben, mit Virginia Woolf eben, dann dürfte es eher so sein, dass hier zwei Welten aufeinanderprallen. Ein spezifischer Mix aus Lebenserfahrung, Einstellung zur Welt, sozialem Status, Bildungsgrad bis hinab zur Instrumentalisierung von Bildung, trifft auf einen Mix, wo alle diese Worte nichts bedeuten.

Setzen wir den Satz in den Kontext, haben wir eine komplexere Situation geschildert, so eine Art Tony Kröger Situation wie sie Thomas Mann in eben dieser Novelle schildert. Bewunderung für ein Leben, das kraftvoll und wenig reflektierend genießt und wütet, es wütet eben auch, und die Welt von Neville, wo versucht wird, über Wörter Authentizität zu schaffen. (Was für Geisteswissenschaftler eine gute Übung wäre, aber die haben das Problem noch gar nicht begriffen, siehe https://www.die-geisteswissenschaften.de).

„Ich werde mich mein ganzes Leben lang an das Äußere von Worten klammern. Ich könnte jedoch nicht mit ihm zusammenleben und seine Stumpfsinnigkeit ertragen.“

Der Autor will aber im Moment gar nicht den Roman von Virginia Woolf interpretieren. Er wollte nur an einem Beispiel zeigen, dass in einem einzigen Satz eine ganze Einstellung zur Welt hängen kann. Für den einen ist es eine simple, höchst triviale Sachaussage und für andere drückt sich in dem einen Satz ein prekäres Verhältnis zur Welt aus. Als reine Sachaussage, ist der Satz äußerst trivial. Also Ausdruck eines Erlebens der Welt, ist er nicht trivial. Die Welt ist bei Virginia Woolf nur noch schemenhaft vorhanden. Wir erfahren gar nicht mehr, wie sich das Bewußtsein herausbildet. Wir erfahren also nicht, um bei dem eingangs genannten Satz zu bleiben, warum für den Lehrer, um einen solchen handelt es sich offensichtlich, die Worte wahr sind und für die anderen nicht. Das ist ähnlich wie bei einem Gedicht, man ist entweder in der Welt des Senders oder man ist eben nicht dort und kann da auch nicht hingelangen.

Das dürfte auch die Grenze zur Unterhaltungsliteratur sein. In der Unterhaltungsliteratur sind wir auf jeden Fall in der Welt des Senders, das ist wie bei einem Gespräch über die üblichen Small Talk Themen. Das kann ganz witzig und amüsant sein, aber es wird nichts festgehalten, was sonst entwischt wäre. Der Sender kann etwas festhalten, was sonst nie in aller Deutlichkeit bewusst geworden wäre, aber wo nichts ist, da kann man auch nichts greifen.

So gesehen fängt schon die Odysee von Homer falsch an.

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zukunft.

Statt „mir“ müsste „uns“ stehen. Wenn nur Homer von den Musen geküsst wurde, dann ist er einsamer Rufer in der Wüste. Auch Dante sieht das falsch.

Der Tag entwich, die Dämmerung brach ein
sie nahm den Wesen, die auf Erden leben
all ihre Mühsal ab und ich allein,
hielt mich bereit, das Ringen anzuheben

Oh Musen, Himmelstöchter, steht mir bei
Gedächtnis, dass du schriebst was ich gesehen,
Jetze offenbare deinen Adel frei

Da muss anstatt „steht mir bei“ „steht uns bei“ stehen, andernfalls versteht das Werk niemand. Das hat ernsthafte ökonomische Konsequenzen. Ist nur der Sender, also z.B. bei Literatur aller Art, nur der Sender von den Musen geküsst, dann wird er Mangels Nachfrage arbeitslos, bzw. erzielt mit seinen Produkten kein Einkommen. Ein Werk sagt also immer genau so viel aus über den Sender, wie über den Empfänger. Wenn also Michel Houellebecq berühmt wird, können wir daraus schließen, dass nicht nur Michel Houellebecq weitgehend frei dreht, sondern auch dessen Leserschaft. Die befinden sich beide im Jammertal und haben im übrigen Sorgen, die kein normaler Mensch hat.

Wundern können wir uns über die Tatsache, dass bei den antiken Griechen die Darstellung eines Innenlebens in welcher Form auch immer, einer externen Kraft zugeschrieben wird, den Musen eben. Von denen gibt es eine ganzen Haufen: Eine ist zuständig für Komik, eine andere für Tragik, eine für Musik, eine für Kunst etc. etc.. Also an der oft kolportierten Aussage, dass die antiken Griechen die Wiege der Kultur sind, kann man schon mal zweifeln. Wie kann man auf so wilde Gedanken kommen? Man kann darauf kommen, wenn man sich darüber wundert, dass Menschen von einer Stimmung erfasst werden können. Hätten sie aber mal ein bisschen mehr nachgedacht, hätten sie festgestellt, dass das in der ganz konkreten Welt ganz ähnlich ist. Liest man z.B. den Roman von Bernardo Guimarães, A Escrava Isaura, siehe https://www.portugiesisch-lehrbuch.de/content/literatur/Guimaraes/index.htm, das Teil ist psychisch echt fordernd, dann hat man mit Leonardo einen Typ, dem man in der Realität glatt die Gurgel durchschneiden würde. Also der Roman weckt ähnliche Emotionen, wie man sie auch in der Realität hätte. Da küsst aber nicht die für Tragik zuständige Muse, sondern Bernardo Guimarães, der sich ganz entschieden für die Abschaffung der Sklaverei einsetzt und es muss ein Publikum gegeben haben, dass ähnlich getaktet war, denn der Roman schildert eine vollig korrupte Gesellschaft und es ist kaum anzunehmen, dass jemand Geld dafür bezahlt, beleidigt zu werden.

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