Wirklich unschlagbar ist die Literatur allerdings, wenn es darum geht, den Möglichkeitsraum aufzuspannen. Komischerweise finden sich hierfür keine Fürsprecher. Der Geist ist ja von den Widrigkeiten der Realität vollkommen unbehindert. Er kann, um mal den bedeutendsten Vertreter dieser literarischen Gattung zu nennen, Goethes Faust, der Frage nachgehen, was eigentlich wäre, wenn man ewig jung bliebe, jeder Wunsch umgehend erfüllt würde und jedes Ziel erreicht werden könnte. Am Ende ist er zwar nicht da, wo er am Anfang hinwollte, der Augenblick, von dem er sagen könnte, dass er ewig dauern sollte, ist nicht eingetreten, was Gott ja gleich zu Beginn des Dramas vorhergesagt hatte, dafür aber hat er, oder zumindest der Leser, dass sich hinter dem Gewusel der Erscheinungen ein tieferer Sinn verbirgt.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
Der Witz in Goethes Faust besteht aber darin, dass auch für Gott höchstselbst, der im übrigen, wenn man das zu Ende denkt, so knapp vor entbehrlich ist, alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, er also auch nicht weiß, wohin die Reise gehen soll. Das Endziel ist auch für Gott nur unzulänglich in konkreten Manifestationen erahnbar und die Quintessenz ist eben unbeschreiblich, solange sie nicht verwirklicht ist.
Ein anderes Beispiel wäre Tous les hommes sont mortels von Simone de Beauvoir. Da ist jemand unsterblich, was für ihn nach ein paar Hundert Jahren eher zur Last wird. (In diesem Falle, weil sein Bestreben, die Menschheit zu besseren und zu bekehren keine Früchte trägt.) Kann man jetzt alles so oder so sehen. Da Menschen aber irgendwann mal den Kreis ihrer Möglichkeiten abgeschritten haben, bzw. ab einem gewissen Punkt irreversibel geprägt sind, wäre Unsterblichkeit Stillstand. Oder auch nicht. Wer weiß das schon. Getoppt wird das noch von dem Roman Orlando von Virginia Wolf. Da lebt jemand nicht nur unendlich lange, sondern ändert auch noch sein Geschlecht.
Den Möglichkeitsraum spannen auch Utopien auf, z.B. Von der neuen Instel Utopia von Thomas Morus. Im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben sind aber eher die Dystopien, z.B. 1984 von George Orwell. (Da gibt es neuerdings auch ein T-Shirt mit dem Slogan: 1984 ist keine Betriebsanleitung. Das sieht der chinesische Staat wohl anders.) Im großen und ganzen tut sich die Menschheit aber schwer damit, den Möglichkeitsraum aufzuspannen und noch schwerer tun sich damit die verbeamteten Geistlichen und ein Großteil der klassischen Romane zeugen von einer Lust, sich am Untergang zu laben.
Für die Buddenbrocks von Thomas Mann z.B. gab es ja mal den Nobelpreis. Bei Thomas Mann werden, das zieht sich durch durch alle Romane von Thomas Mann durch, menschliche Schicksale als Ergebnis einer philosophisch beschriebenen grundlegenden conditio humana dargestellt. Bei den Buddenbrocks liest Thomas Buddenbrock Schopenhauer, was ihn dann noch weiter aus seiner kaufmännischen Tätigkeit hinaustreibt, im Zauberberg wird das Schicksal von Hans Castorp zu einem Hin- und Hergerissensein zwischen Mittelalter (Naptha) und Aufklärung (Settembrini) und im Doktor Faustus geht Adrian Leverkühn einen Pakt mit dem Teufel ein, was irgendwie verknüpft wird mit der politischen Entwicklung zwischen 33 und 45. Die Wahrheit ist viel schlichter. Die family Buddenbrock hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Thommy hätte besser sich besser mit der Lebedame liiert, mit der er ein Techtelmechtel hatte, als standesgemäß und langweilig mit irgendeiner Trulla aus Brasilien, die Tony hätte den Mediziner heiraten sollen, so ein ordentlicher Sozialist hätte auf jeden Fall Spannung in die Bude gebracht, anstatt standesgemäß den Hochstapler Grünlich. Was die family Buddenbrocks auf die schiefe Bahn geraten lässt, ist nicht der Intellekt, der dem Leben den Saft entzieht, sondern schlichte Spießbürgerlichkeit und Kleinkariertheit. Völlig abenteuerlich ist der Versuch, dem Nationalsozialismus eine tiefenpsychologische, philosophische oder was auch immer Bedeutung zu geben. Die Wahrheit ist da viel einfacher. Schafft es ein verbrecherisches System, durch das Setzen von positiven oder negativen Sanktionen eine Gesellschaft auf Linie zu bringen, dann gerät diese Gesellschaft auf die schiefe Bahn, denn die positiven bzw. negativen Sanktionen müssen nicht allzu stark sein.
Die Literatur hat die Tendenz, sich am Untergang zu laben. Merkwürdigerweise in allen Sprachen dieser Welt, egal ob Zola, Stendhal, Joseph Conrad, Luigi Pirandello, Aluisio Azevedo oder Pio Baroja. Kurios ist auch die Berühmtheit von Franz Kafka. Es mag ja sein, dass K. an der Schloss Bürokratie scheitert, aber die Ineffizienz von Bürokratien zum metaphysischen Problem hochzustilisieren, ist nicht zielführend und eine in der Literatur weit verbreitete Marotte.
Es ist schwer zu sagen, was den professoralen und staatlich alimentierten Berufsgeistlichen deutscher Prägung so umtreibt. Geht man von google aus, dann ist es nicht gerade der Möglichkeitsraum, denn der ist zumindest tendenziell mit der Realität liiert. Fridrich Nietzsche (in Anführungsstriche, ansonsten erhält man als Treffer auch alle Friedriche dieser Welt) bringt es bei google auf sagenhafte 19.600.000 Treffer. Ernst Bloch, dessen Thema ist der Möglichkeitsraum, bringt es lediglich auf 912.000 Treffer. Wir können davon ausgehen, dass die Treffer von verbeamteten Geistlichen geliefert werden und können daraus schließen, dass die fast alle auf den Pfaden von Thomas Buddenbrock, Hans Castorp und Adrian Leverkühn unterwegs sind. Mit dem Willen zur Macht, dem Übermenschen, mit dem Christentum als Sklavenmoral, der Wiedergeburt des ewig Gleichen etc. kann aber kein Mensch was anfangen. Wer die Volkswirtschaftslehre als „dismal science“, trostlose Wissenschaft, bezeichnet, der hat noch nie etwas mit einem verbeamteten Geistlichen zu tun gehabt.