Wer das nicht sieht, also in der Kunst kein utopisches Potential erkennt, der sieht es, wenn man es umgekehrt sieht. Die Palette an Kunstwerken aller Art, die sich kritisch mit der Realität auseinandersetzen, ist unendlich und in allen Sparten vorhanden: Der Untertan von Heinrich Mann, L’argent von Emile Zola, Brave New World von Aldous Huxley, El árbol de ciencia von Pio Baroja, An american Tragedy von Theodore Dreiser, Desastres de la Guerra von Goya, die Bilder von Otto Dix, Lieder von Bob Dylan oder Pink Floyd, Bilder von Edward Hopper, Pop Art kann man als Gesellschaftskritik interpretieren etc. etc.. In diesem Fall wird nicht Gelingen gezeigt, sondern das genaue Gegenteil, Misslingen. Allerdings leuchtet auch in der Darstellungen des Misslingens das Gelingen auf, denn wer das Misslingen beschreibt, muss eine Vorstellung von Gelingen haben. Damit man Depression feststellen kann, muss es einen Normalzustand geben, der mit dem depressiven Zustand verglichen wird. Die Nicht-Akzeptanz des Misslingens hat mehr utopisches Potential, ist eher der Beginn des Aufbruchs, als die Resignation.
Beide Male, sowohl bei der Darstellung des Gelingens wie bei der Darstellung des Misslingens, beharrt Kunst aber auf dem Niveau der Lösung, was Kunst von den alltäglichen Diskussionen unterscheidet. Der Vorschein des durch die Kunst dargestellten Möglichkeitsraum, übersteigt die Realität, verneint aber Lösungen auf niedrigem Niveau. Es gibt für jedes sozioökonomisches Problem auf dieser Welt auf niedrigem Niveau immer eine Lösung, siehe https://theatrum-mundi.de/was-ist-eigentlich-konkret-falsch-an-dem-geblubbere-von-sarrazin-maassen-chupralla-weidel-etc/. Die Klimakrise kann bewältigt werden, wenn man einfach nichts tut und Teile des Planeten unbewohnbar werden. Das reduziert die Menschheit drastisch und damit auch den Verbrauch an Resourcen aller Art. Probleme mit der Finanzierung des Gesundheitssystem lassen sich dadurch lösen, dass man die bestimmte Leistungen einfach nicht mehr bezahlt, bzw. die Beiträge anhebt. Das Problem der Arbeitslosigkeit hat David Ricardo schon vor 200 Jahren gelöst. Wird nur das Existenzminimum bezahlt, dann sterben die Leute, die das Existenzminimum nicht haben, eben weg und Tote sind nun mal nicht arbeitslos. Migrationsbewegungen kann man einfach dadurch lösen, dass an den Grenzen scharf geschossen wird. Was also an Lösungen in der Politik vorgeschlagen wird oder von so Figuren wie Sarrazin, Maaßen, Weidel, etc. vorgeschlagen wird, ist vor allen Dingen nicht besonders anspruchsvoll. All diese Leute meinen, dass sie der Menschheit was neues mitteilen, was nicht der Fall ist. Das Problem ist nicht, dass die Leute nicht sehen, dass Deutschland oder Europa unbegrenzt Leute aufnehmen kann. Das ist allen klar. Die Leute die gegen die von Sarrazin und Co vorgeschlagenen „Lösungen“ sind, z.B. bei der Flüchtlingsproblematik, nach komplexeren Lösungen suchen. Das hat dann aber eine Menge mit Technik, Organisation, Schaffung von geeigneten Randbedingungen etc. zu tun. Das Problem wird dann komplex und die Sarrazins sind dann intellektuell überfordert. Kunst, die uns berührt, stellt Idealzustände dar, Momente vollkommenen Gelingens. Daran und nicht an einer „Lösung“ auf niedrigem Niveau muss sich die Realität messen lassen. Der Beginn des Wintermärchens von Heinrich Heine zielt schon ganz konkret auf Gelingen und es wird wohl auch nur die berühren, die am Gelingen festhalten.
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Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.
Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.
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aus: Deutschland ein Wintermärchen von Heinrich Heine
Die Verse zeigen jetzt nicht, mit welchen technischen Möglichkeiten und unter welchen konkreten soziökonomischen Rahmenbedingungen das jetzt konkret umgesetzt werden soll. Es zeigt auch keine Tendenzen auf, die sich mit der Utopie verbinden. Es wird aber am Gelingen festgehalten. Es gibt subtilere Bilder von Gelingen, das Beispiel ist eben besonders illustrativ. Vermutlich berührt die Kunst am meisten, die einen Entwurf oder Gegenentwurf zur Realität darstellt. Ein subtileres Beispiel wäre das. Mit dem Thema der Neunten Symphonie von Antonin Dvořák verbinden wohl alle Leute Aufbruch und Durchmarsch bis zur großen Ankunft.
Und das ist der entscheidende Punkt. Für die Hoffnung ist erstmal nicht entscheidend, ob sie sich mit konkreten technischen oder sozioökonomischen Inhalten verbündet. Entscheidend ist nur, ob Hoffnungsinhalte überhaupt vorhanden sind, das heißt der Vorschein eines Augenblicks, von dem man sich vorstellen kann, dass er ewig währt.