staunen, nicht ärgern

Das Genie, der Schriftsteller und die Hermeneutik

Bei Hermeneutik haben wir eine weite Bandbreite an Definitionen, google ist da wie üblich sehr ergiebig. Das geht von „Lehre von der Auslegung von Texten“, „Verstehen von Sinnzusammenhängen“, „erklären, auslegen, übersetzen“, „Hermeneutik ist die theoretische Herangehensweise, ein künstlerisches Werk (meist einen Text) zu verstehen beziehungsweise zu interpretieren“, „…mit „hermeneutischer Methode” wird ein Verfahren bezeichnet, das ein Werk erklärt oder argumentativ auslegt“ etc. etc… Also man bringt es da ganz locker auf ein paar Hundert Definitionen.

Mehr oder weniger ist allen diesen Definitionen gemeinsam, dass sie auf der Seite des Objekts, also dem was da interpretiert, ausgelegt, verstanden, erklärt etc. werden soll, einen Wahrheitsgehalt zusprechen, den man irgendwie ergründen muss. Bei Gadamer haben wir zwar einen hermeneutischen Zirkel, also das analysierende, erklärende, interpretierende etc. Subjekt kann seine Einstellung zu dem zu Analysierenden, zu Erklärenden, zu Interpretierenden etc. im Zeitablauf ändern, was einen Teil der Wahrheit in das Subjekt verlegt, am Wahrheitsbegriff hält er aber fest, wodurch die Angelegenheit logisch inkohärent und praktisch irrelevant wird. Zur Wahrheit gehört BEDEUTUNG. Bedeutungslose Wahrheiten sind irrelevant, aber eine bedeutsame Wahrheit wird ganz ohne Hermeneutik unmittelbar verstanden.

Machen wir uns das mal kurz an einem Beispiel klar. Das Lied von Bob Dylan „The times they are a changin“ ist jetzt das, was der Autor als genial bezeichnen würde, allerdings bei einem etwas modifizierten Begriff. Genial eher in dem Sinn, dass wir alle, sieht man mal von den Leuten ab, die dicke Bücher über Hermeneutik schreiben, genial sind. Anders würde das Spiel auch nicht funktionieren. Ohne kongeniales Publikum, kann das Genie auch in der Wüste vor sich hinträllern.

Das Lied „The times they are changing“ hat erstmal keinen Kontext, bzw. das Lied selber liefert den Kontext nicht selbst mit.

Wenn es aber als Schockwelle um die Welt geht, dann braucht es wohl offensichtlich nicht viel Hermeneutik. Was beschrieben wird, ist unmittelbar klar. Es läuft etwas ganz grundlegend falsch und es muss sich ganz grundlegend was ändern. So wird das verstanden, ganz unmittelbar.

https://www.youtube.com/watch?v=PMz_zplGza0

(Im Hintergrund Louis Vuitton, das kommt wirklich gut. Der gute Bernard Arnault könnte sich auch damit beschäftigen, konkrete Probleme zu lösen, als Handtäschen für irgendwelche Tussis zu produzieren.)

Das Lied hat keinen analytischen Ansatz, analysiert die Probleme nicht auf einer rationalen Ebene, das wäre die z.B. Liga Keynes (die marktwirtschaftliche Ordnung kann in eine Sackgassse geraten, wenn die Realwirtschaft nur noch ein Anhängsel der Finanzwirtschaft ist.) Das Lied ist Ausdruck einer allgemeinen Subjekt <=> Objekt Spannung, einer Wahrnehmung der Welt, die es erlaubt, dass das Lied unmittelbar verstanden wird, sofern die Erfahrungsfähigkeit ausreicht, die aber bei verbeamteten Hermeneutikern tendenziell eingeschränkt ist. (siehe https://theatrum-mundi.de/geisteswissenschaften-versteheritis-die-relevanz-der-wahrheit-und-friedrich-schiller/)

Der hermeneutische Zirkel suggeriert, dass der Artefakt einen Wahrheitskern hat, der mit jedem Durchlauf tiefer erschlossen wird. Es ist öfter mal umgekert. Der Wahrheitskern wurde unmittelbar erfasst, aber im Zeitablauf verändert sich die Bedeutung.

Den umgekehrten Fall kann es geben, der setzt aber trotzdem keine zyklische Annäherung in Gang. Das Spannungsfeld aus Subjekt <=> Objekt, also des Subjekts, das sich zur Welt verhält, kann asynchron zum Subjekt <=> Objekt Spannungsfeld des Betrachters verlaufen, dann ist der Artefakt schlicht erstmal bedeutungslos und wird erst bedeutungsvoll, wenn sich die Zeitabläufe ändern bzw. sich beim Betrachter die Einstellung zu den Zeitabläufen geändert haben. Dass wir es bei Goethes Faust mit einer ziemlich fundamentalen Sprachkritik zu tun haben, wird unter Umständen nur mit der Zeit klar.

Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Goethe ist der absolute Meister der Intuition und auch der einzige, der das Phänomen mal konkreter beschreibt, siehe https://theatrum-mundi.de/was-heisst-eigentlich-intuition/. Das Thema wird im Faust x-Mal angesprochen, z.B. beim Gespräch zwischen Mephistopheles und dem Schüler, Faust im Studierziemmer (Am Anfang war das Wort / hier stock ich schon), etc.. Allerdings ist es keine analytische Herangehensweise. Man muss schon dem Programm des Fausts folgen können, um die Sprachkritik zu verstehen.

Wenn ihr’s nicht erfühlt,
ihr werdet es nicht erjagen

Anders formuliert, fehlt es an der Synchronisierung, dann verhallen die Rufe des Genius. Was „intuitiv“ erschaffen wurde, kann auch nur „intuitiv“ erfasst werden. Was ziemlich oft daneben geht. Was Harry Haller im Steppenwolf von Herman Hesse intuitiv erfasst, dass Goethe die „bürgerlichen“ Werte, ganz radikal in Frage stellt, kommt bei verbeamteten Geistlichen irgendwie nicht an. Dass Goethes Faust eine Fundamentalkritik an allen Werden des Abendlandes ist, wird nicht verstanden. Da haben wir ein echtes Problem mit der Synchronisierung. Das Buch stellt alles in Frage: Den Wert der Bildung, die Religion, die Sprache, die Kirche, den Glauben an die Vernunft etc… Das Teil muss eine komplexe Historie hinter sich haben, bis es zum Opus Magnus des Bildungsbürgers mutieren konnte. Das Phänomen haben wir aber öfters. Auch Conversación en la Catedral von Mario Vargas Llosa ist starker Tobak, aber mit dem Rückenwind der Presse hat es den Weg auf die Bücherregale gefunden, auch wenn nur ein geringer Teil der Leser versteht, was da drin steht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert