Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.
Heinrich Heine
Da kommt alles zusammen. Die Liebe und die Musik, beides Elemente, die geeignet sind, den Empfänger etwas von der Geschäftüchtigkeit abzuhalten. Letztlich geht um eine Sehnsucht, die ins Unendliche zielt, bzw. das Subjekt hinaus trägt aus der Welt, in der es bestehen muss. Das steht aber gar nicht in dem Gedicht. Beschrieben wird erstmal nur ein Sachverhalt. Wer jetzt allerdings mal eine zeitlang neben sich gestanden hat, der wird das anders sehen. Das Ding beschreibt aber nicht nur einen Gemütszustand, sondern dieser wird auch ironisch gebrochen dargestellt. Dasselbe Thema haben wir bei der Odysee, als Odysseus sich an den Mast binden lässt, damit ihn der Gesang der Sirenen nicht veranlasst, vom Schiff zu springen. Da allerdings hat die Geschichte einen anderen Dreh. Nur dadurch, dass er seine Gefühle im Zaum hält, kann er überhaupt überleben. Es ist also nicht die Sachdarstellung, die Tatsache, dass ein Schiffer den Rhein runterschippert und nicht auf die Klippen achtet, was das Gedicht ausdrückt, sondern das, was ihn bei dem bewirkt, der der sich an den Sachverhalt erinnert. Vermutlich hat er ähnliche Probleme wie der Schiffer.
Die Kategorie Heidegger ist dann das.
Wir sind nur Mund. Wer singt das ferne Herz,
das heil inmitten aller Dinge weilt?
Sein großer Schlag ist in uns eingeteilt
in kleine Schläge. Und sein großer Schmerz
ist, wie sein großer Jubel, uns zu groß.
So reißen wir uns immer wieder los
und sind nur Mund. Aber auf einmal bricht
der große Herzschlag heimlich in uns ein,
so daß wir schrein, —
und sind dann Wesen, Wandlung und Gesicht.
Rainer Maria Rilke
Neudeutsch würde man sagen, das mit „Wir sind nur Mund“ eine verdinglichte Sprache gemeint ist, also Wörter, die wie Geldmünzen getauscht werden, aber der Wert nicht im Inhalt liegt, sondern im Tauschwert, was auch immer man dafür bekommt. Möglich wäre die Identifikation mit einer Gruppe, die sich dann einbildet, dass sie etwas gemeinsam haben, obwohl sie lediglich dieselben Wörter benutzen und eigentlich gar nichts meinen, bzw. was ganz was anderes. Wer z.B. stolz ist auf sein Vaterland, schmückt sich mit fremden Federn und hat in der Regel keine eigenen. Das versichert sich eine Gruppe durch Wörter ihre herausgehobene Stellung, ohne dass sie so genau wissen, worauf sie eigentlich konkret stolz sind. Wir reden dann von einer Sprache, die die Welterfahrung des Individuums überschreitet und damit zur hohlen Phrase wird. Es liegt in der Natur der Dinge, dass Wörter nur eine Bedeutsamkeit haben können, wenn sie mit eigener Erfahrung gesättigt sind. Wörter oder Sätze bedeuten immer was, aber sind nicht immer bedeutsam. Was ChatGPT an Text produziert, bedeutet immer was, aber nichts ist für ChatGPT bedeutsam. Ein Aussage kann richtig, falsch, sinnlos oder agrammatikalisch sein, eine Bedeutung hat er immer, was aber nicht heißt, dass er auch bedeutsam ist. Erst wenn sich das Subjekt gegen die Sprache wehrt, sie mit der eigenen Welterfahrung abgleicht, kann sie eine Bedeutsamkeit haben. (siehe auch https://theatrum-mundi.de/was-heisst-eigentlich-intuition/2/). Wir haben dann eine Sprache, die sich dem Individualisierungsprozess verwweigert, weil gar kein Individuum vorhanden ist, das bereit ist, sich existentiellen Fragen zu stellen. Das ist so ähnlich wie ein Alkoholiker, der es vorzieht, seine Sehnsüchte im Rausch zu vergessen anstatt sich daran zu machen, sie sich zu erfüllen.
Heidegger zitiert zwar Goethe, aber er versteht ihn nicht. Die Sprache ist für Goethe nur insofern ein Problem, als es an der Grenze der Welterfahrung keine Sprache mehr gibt. Das Problem ist ein Mangel an Individualität des Subjekts, das von der verwaltenden Welt so umfangen ist, dass es ihm nichts mehr entgegen setzen kann.
Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil,
das Schaudern ist der Menschheit bester Teil
Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure
ergriffen fühlt er tief das Ungeheure
Goethe, Faust II
Wehrt sich ein Individuum gegen gesellschaftliche Konventionen, gegen in Sprache fixierte Vorstellungen, dann wird ihm seine Umwelt unter Umständen das Gefühl verteuern, denn unter Umständen bedeutet das, dass die Dinge mal ganz grundsätzlich neu durchdacht werden müssen, um aus einem leeren Getriebe auszubrechen. Ab und an und alle paar Generationen passiert das ja.
Ähnlich sind diese Verse.
Sein Auge weilt auf dieser Erde kaum;
sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur;
was die Geschichte reicht, das Leben gibt,
sein Busen nimmt es gleich und willig auf:
Das weit Zerstreute sammelt sein Gemüt,
und sein Gefühl belebt das Unbelebte.
Oft adelt er, was uns gemein erschien,
und das Geschätzte wird vor ihm zu nichts.