staunen, nicht ärgern

Auf welchem Niveau funktioniert Demokratie?

Weil die offene Gesellschaft nicht für sich in Anspruch nimmt, den Weg zu kennen und auch nicht davon ausgeht, dass die Geschichte sich zwangläufig in eine bestimmte Richtung entwickelt, ist sie schon vom Grundsatz her tolerant. Soweit die Theorie. Was das konkret bedeuten soll, ist unklar, weil Menschen, die von der Richtigkeit ihrer Thesen ausgehen, also z.B. an die geistig moralische Erneuerung à la Helmut Kohl glauben, sich durch die Lektüre des Buches von Popper, die offene Gesellschaft und ihre Feinde, kaum inspirieren lassen. Inspierend ist da eher ein Wandel in der Gesellschaft, z.B. in Bezug auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Werden solche Strömungen ignoriert, verliert man die Mehrheit, denn die Mehrheit ist immer ein Konglomerat aus Minderheiten. Die Kunst besteht also darin, eine Minderheit zu integrieren ohne eine andere zu vergraulen. Will eine Regierung eine geistig moralische Wende herbeiführen, geht sie naheliegenderweise davon aus, dass ihre Vorstellungen von Moral der Menschheit frommt und diese in diesem Sinne zu erziehen ist. Das wäre dann das Gegenteil einer offenen Gesellschaft, was aber Helmuth Kohl kaum überzeugt hätte. Wesentlicher überzeugender ist der Verlust an Wählerstimmen, so dass die geistig moralische Wende dann auch ausblieb und irgendwann mal auch die deutsche Nationalhymne zur mitternächtlichen Stunde in den öffentlich rechtlichen Sendern verstummte.

Die offene Gesellschaft hat aber noch ein viel grundsätzlicheres Problem, womit wir dann bei einem weiteren Kalauer wären: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Das fand Helmut Schmidt wahnsinnig tiefsinnig und der Spruch liefert, mit Anführungsstrichen beachtliche 26 000 Treffer bei google und ohne Anführungsstriche, dann kriegen wir auch Varianten, ein paar Millionen. Der Autor würde sagen, wer keine Visionen hat, sollte sich die Kugel geben, denn er weiß offensichtlich nicht mehr, wieso er überhaupt noch lebt. Menschen ohne eine konkrete Vorstellung von Glück, sind tickende Zeitbomben. Denen ist alles so egal, dass sie sogar für Volk und Vaterland sterben. Auch die offene Gesellschaft braucht ein Ziel. Der Begriff offene Gesellschaft klingt sehr sympathisch, ist aber eigentlich nur negativ bestimmt, also durch das, was die offene Gesellschaft nicht ist,

Soll also der Begriff offene Gesellschaft irgendeinen Sinn ergeben und nicht schlicht ein Regierungssystem bezeichnen, das den Machtmissbrauch verhindert, soll also der Begriff offene Gesellschaft mehr sein, als ein Marketinggag, ähnlich wie der Begriff soziale Marktwirtschaft, dem man unterstellt, dass es ein ganz raffiniertes System bezeichnet, das in Deutschland erfunden wurde, dann braucht es mehr. Die Idee, dass die Demokratie den Machtmissbrauch verhindert, passt auf eine halbe Din A4 Seite. Zur Illustrierung dieser Aussage hätte es Plato, Marx und Hegel nicht bedurft und andere Schriften wären zur Illustrierung geeigneter gewesen, Details siehe hier: https://economics-reloaded.de/7_kritischer_Rationalismus/Karl_Popper/7_1_die_offene_Gesellschaft.htm.

Sinn macht der Begriff nur, wenn man damit auch einen Erkenntnisprozess verbindet, also einen Prozess, der dazu führt, dass nicht derselbe Fehler zweimal gemacht wird und sich die Gesellschaft weiterentwickelt, also ein Fortschritt, in welcher Richtung auch immer, erkennbar ist. Das setzt aber zumindest einen Lernprozess voraus, dass heißt eine bewusste Auswahl aus Alternativen, die dann anschließend rational bewertet werden, so dass derselbe Fehler nicht zweimal gemacht wird. Im Groben haben wir das sogar. Alle westlichen Industrienationen streben nach einer austarierten Wirtschafts- und Sozialordnung, die Stück für Stück an sich ändernde Entwicklungen angepasst werden. Radikale Lösungsvorschläge sind in der Praxis bedeutungslos, auch wenn sich Bücher, die radikale Gegensätze hypostasieren, wie etwa „Wege in die Knechtschaft“ von Friedrich Hayek oder „Capitalism and Freedom“ von Milton Friedman gut verkaufen. Wahrscheinlich weil sie suggerieren, dass in der Gesellschaft noch ein Kampf ausgetragen wird zwischen Gut und Böse. Das hat zwar, wie jeder im Grunde weiß, nichts mit der Realität zu tun, erzeugt aber ein wohliges Schaudern.

Dessen ungeachtet besteht aber bei dieser anspruchsvollen Demokratievorstellung noch Luft nach oben und das kantsche sapere aude bringt uns da auch nicht weiter, da ist Kant ein bisschen naiv. Am Mut sich seine eigenen Verstandes zu bedienen fehlt es oft nicht, sondern an den Möglichkeiten und vor allem an der Zeit. Moderne Gesellschaften sind äußerst kompliziert, die Palette an Fragestellungen unendlich. Das reicht von der Ausgestaltung des Urheberrechts, Maßnahmen gegen den Klimawandel, Sinnlosigkeit oder Sinnhaftigkeit des föderativen Aufbaus, der Ausgestaltung des Bildungssystems, ob die Rente umlagefinanziert bleiben soll oder umgestellt werden soll auf ein kapitalgedecktes Verfahren, Drogenpolitik, Gesundheitssystem etc. etc.. Hinsichtlich der Möglichkeiten sich über all diese Fragen ein qualifiziertes Urteil zu bilden, ist noch Luft nach oben, das Informationsfreiheitsgesetz könnte umgebaut werden zu einem Transparenzgesetz, die Lehrpläne der Schulen könnten so umgebaut werden, dass mehr Vorwissen vorhanden ist, beim öffentlich rechtlichen Rundfunk könnte die Menge an reiner Unterhaltung zugunsten von mehr Information reduziert werden. Um mal ein paar Beispiel zu nennen.

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