staunen, nicht ärgern

Nomothetische und idiographische Wissenschaften: die Geburt des Schwachsinns aus dem Geiste des Blabla

Wie machen wir’s, daß alles frisch und neu
Und mit BEDEUTUNG auch gefällig sei?

Faust, Vorspiel auf dem Theater

Bedeutung, im Sinne von bezeichnen, kann Goethe hier nicht meinen. Er meint Bedeutsamkeit. Das Wort Tisch bedeutet etwas, ist aber nicht bedeutsam. Was das Teilzeit alter Ego von Goethe hier sagen will, die anderen Teilzeit alter Egos Goethes im Faust sind der Dichter, die lustige Person, Faust und Mephistopheles, ist das: Die Leute suchen schon Bedeutsamkeit, aber Marketingtechnisch muss das in der Unterhaltung verpackt werden. Wird diesem Programm nicht gefolgt, werden sich die Geisteswissenschaften in die Bedeutungslosigkeit verabschieden.

Was hat das jetzt mit der Unterscheidung zwischen nomothetischer Wissenschaft und idiographischer Wissenschaft zu tun? Eine ganze Menge. Fassen wir das mal zusammen und definieren nomothetische Wissenschaften und idiographische Wissenschaften schnörkellos. Die nomothetischen Wissenschaften befassen sich mit Objekten, die Stellung des betrachtenden Subjekts ist egal. Cum grano salis: Wenn die betrachtenden Subjekte bzgl. der Beschreibung des betrachtenden Objekts zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, dann irren manche betrachtende Subjekte (oder eben alle). Es ist egal, wer die Planeten betrachtet, die um die Sonne kreisen. Tatsache ist, dass sie sich in einer Ellipse um die Sonne bewegen, wie Keppler zutreffend festgestellt hat, und nicht in einem Kreis. Wer das anders sieht, der sieht das falsch. Anders formuliert, bei den nomothetischen Wissenschaften geht es um Naturgesetze, die ganz unabhängig vom Betrachter richtig oder falsch sind. Bei den Geisteswissenschaften, also Philosophie, alle Philologien, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte etc. beschäftigen sich mit der HALTUNG des Subjekts zum Objekt. Hier geht es nicht mehr um falsch oder richtig, hier geht es um subjektiv empfundene BEDEUTSAMKEIT.

Die ganze Diskussion um die Unterscheidung zwischen nomothetischen Wissenschaften und idiographischen Wissenschaften ist ziemlich sinnfrei, weil sie a) in der wissenschaftlichen Praxis sowenig eine Rolle spielen, wie der kritische Rationalismus von Popper und b) etwas als Ziel definiert, sowohl für vermeintlich nomothetische Wissenschaften wie auch für vermeintlich idiographische Wissenschaften, nämlich Wahrheit im Sinne von sachlogischer Richtigkeit, das für die Geisteswissenschaften keine Rolle spielt. Ein Bild, ein Gedicht, ein Musikstück, ein Theaterstück, eine Ballettaufführung ist weder falsch noch richtig, kann aber bedeutsam bzw. nicht bedeutsam sein. Die Dinge bedeutsam zu machen ist ein sinnvolles Ziel für die Geisteswissenschaften. An Wahrheiten ohne subjektive Bedeutsamkeit besteht, im Kontext der Geisteswissenschaften, kein Interesse und keine Nachfrage. Bei den Naturwissenschaften erwarten wir keine subjektive Bedeutsamkeit, sondern eine objektive Bedeutsamkeit, die gegeben ist, wenn das Gesetz bzw. der Kausalzusammenhang richtig ist und auch einen konkreten impact hat.

Die Begriffe idiographische und nomothetische Wissenschaften bringen es bei google auf 14900 Treffer. Das ist nicht wirklich viel, in Anbetracht der Tatsache, dass auch jedes Professorchen für Volkswirtschaftslehre mit philosophischen Ambitionen meint, im Grundstudium die Differenzierung erläutern zu müssen. (Wer sowohl ein geisteswissenschaftliches Fach als auch parallel dazu ein Fach studiert, das sich den nomothetischen Wissenschaften zurechnet, hört sich den Quark gleich zweimal an.)

Mehr oder weniger tönt das dann so, wie bei Wikipedia.

Nomothetisch
(von griechisch nomos: ‚Gesetz‘ und thesis: ‚aufbauen‘) bezeichnet eine Forschungsrichtung, bei der das Ziel wissenschaftlicher Arbeit allgemeingültige Gesetze sind. Ihre Methoden sind experimentell, oft reduktionistisch, die erhobenen Daten quantitativ. Nomothetische Theorien abstrahieren von den Phänomenen. Diese Denkweise sei, so Windelband, typisch für die Naturwissenschaften.
Idiographisch
(von griech. idios: ‚eigen‘ und graphein: ‚beschreiben‘) ist eine Forschungsrichtung, bei der das Ziel wissenschaftlicher Arbeit die umfassende Analyse konkreter, also zeitlich und räumlich einzigartiger Gegenstände ist. Ihren Hauptanwendungsbereich sieht Windelband in den Geisteswissenschaften.

Irgendjemand fasst das dann noch zusammen. Die nomothetischen Wissenschaften befassen sich mit dem, was ist, die idiographischen, mit dem, was war. Soll heißen: Die Naturgesetze gelten immer, die Geisteswissenschaften beschreiben eine spezifische Konstellation in der Vergangenheit, wobei diese Aussage eben auch in die falsche Richtung geht. Es geht in den Geisteswissenschaften um BEDEUTSAMKEIT und was vor 250 Jahren bedeutsam war, kann auch heute noch bedeutsam sein, wohingegen das, was gestern bedeutsam war, heute ohne jede Bedeutung sein kann. Das ist sogar ziemlich oft so, wie schon im Faust zutreffend festgestellt.

Was glänzt, ist für den Augenblick geboren
das Echte bleibt der Nachwelt unverloren

 

Unterschieden wird also nach der Methodik, nicht aber nach dem Ziel und das auch noch falsch. In den ganzen z.B. medizinischen Fächern sind quantitative Methoden, also Statistik, zwar fester Bestandteil der Forschung, allerdings nur insofern, als statistische Zusammenhänge Hinweise geben auf kausale Zusammenhänge. Letztlich interessant sind aber nur kausale Zusammenhänge. Therapeutisch sind statistische Zusammenhänge bedeutungslos. Therapien sind nur möglich, wenn kausale Zusammenhänge bekannt sind. Wüsste man z.B. inwiefern sich die Zellteilung des Tumors eines bestimmten Organs von der gesunden Zelle des Organs unterscheidet, könnte unter Umständen medikamentös eingegriffen werden. (Manchmal würde es sogar reichen, wenn man bei dem entsprechenden Organ die Mechanismen kennt. Eine medikamentöse Behandlung würde dann zwar auch das Organ selber schädigen, aber der Tumor wäre dann auch gleich platt.) Nomothetische Wissenschaften abstrahieren auch überhaupt nicht den Phänomenen, ganz im Gegenteil. In der Praxis geht es darum, alle relevanten Phänomene mit einzubeziehen und so zu einer allgemeinen Theorie zu gelangen. Es ist lediglich so, dass es manchmal einfacher ist, das Problem zu vereinfachen indem die Anzahl der Einflussfaktoren reduziert wird, etwa bei in vitro Versuchen in der Molekularbiologie. In der Medizin müssen dann aber spätestens im Stadium der klinischen Forschung sind dann alle Phänomene zu berücksichtigen, ansonsten hätten wir Operation gelungen, Patient tot. Ähnlich sinnfrei ist im übrigen der kritische Rationalismus von Karl Popper. In der Forschung wird eine Theorie nie nur deswegen verworfen, weil sie falsifiziert worden ist zumal die Falsifikation selten eindeutig ist. Es ist sehr gut möglich, dass eine Theorie in einem bestimmten Kontext immer wieder bestätigt wird und in einem anderen Kontext immer wieder falsifiziert wird. Die Theorie wird dann präzisiert, aber nicht verworfen. Die Methodik der Forschung ist aber gar nicht das, was die Unterscheidung zu den sogenannten idiographischen Wissenschaften ausmacht. Das Entscheidende ist, dass das betrachtende Subjekt dem Objekt gegenüber eine völlig neutrale Haltung einnimmt. Sein Forschungsobjekt kann ihn zwar subjektiv begeistern, vor allem dann, wenn es dafür ordentlich Forschungsgelder gibt oder er der Meinung ist, dass die genau Kenntnis des Sachzusammenhanges die Menschheit entscheidend weiter bringt, aber letztlich müssen alle, die sich mit dem Thema befassen, zum selben Ergebnis kommen. Die Wahrheit liegt allein im Objekt begründet.

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