staunen, nicht ärgern

Wozu Geisteswissenschaften?

Gleichermaßen unklar ist das Bild auf der Seite der Rezeption. Das reicht von reiner Unterhaltung bis zur Verdichtung und Festhalten eines Moments.

Im windes-weben
War meine frage
Nur träumerei.
Nur lächeln war
Was du gegeben.
Aus nasser nacht
Ein glanz entfacht –
Nun drängt der mai
Nun muss ich gar
Um dein aug und haar
Alle tage
In sehnen leben

Stefan George

Ob bei Mick Jagger tatsächlich eine Erfahrung zugrunde gelegen hat, die er festhalten wollte – no clue. Auf jeden Fall ist das suggestiv.

In dem Lied sind dann Sätze, die aufhorchen lassen.

My riches can’t buy everything
I want to hear the children sing

 

Vermutlich verschwindet der Moment, wenn man ihn nicht festhält. Dazwischen liegt dann alles mögliche. Was Goethe im Faust liefert, ist eine Beschreibung, aber keine Erklärung.

So braucht sie denn, die schönen Kräfte
Und treibt die dichtrischen Geschäfte
Wie man ein Liebesabenteuer treibt.
Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt
Und nach und nach wird man verflochten;
Es wächst das Glück, dann wird es angefochten
Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran,
Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman.
Laßt uns auch so ein Schauspiel geben!
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
In bunten Bildern wenig Klarheit,
Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit,
So wird der beste Trank gebraut,
Der alle Welt erquickt und auferbaut.
Dann sammelt sich der Jugend schönste Blüte
Vor eurem Spiel und lauscht der Offenbarung,
Dann sauget jedes zärtliche Gemüte
Aus eurem Werk sich melanchol’sche Nahrung,
Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt
Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.
Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen,
Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein;
Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;
Ein Werdender wird immer dankbar sein.

Faust, Vorspiel auf dem Theater

Wir können das nachvollziehen, wenn auch nicht unbedingt verstehen. Das Publikum wünscht, zumindest im Kino, eine hohe Erfahrungsdichte: …Man ist entzückt, dann kommt der Schmerz heran… Diese Erfahrungsdichte kann anschlussfähig sein an die Realität des Publikums, dann hat man so eine Welle wie Demian von Hermann Hesse (oder eben Steppenwolf, der hat es sogar mit Easy Rider in die Kinos geschafft) bzw. The Catcher in the Rye von J.D. Salinger oder eben nicht, dann hat man sowas wie Harry Potter. Ist ein Werk anschlussfähig, verändert es die Perspektive auf die Welt, wenn nicht, dann ist auch ganz lustig. Allerdings wird man bei Harry Potter kaum viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit finden, denn Wahrheit ist eine Kategorie, die es nur in der Realität gibt, bzw. bei Dingen, die an eben selbige anschlussfähig sind, eben selbige verdichten. Bei Harry Potter lauscht auch niemand der Offenbarung, denn auch dieser Begriff bezieht sich auf die Realität. Bei Harry Potter werden höchstens Rätsel gelöst. Gleichermaßen unwahrscheinlich ist, dass das Publikum bei der Lekture von Harry Potter erfährt, was es im Herzen trägt, denn auch hier haben wir eine Kategorie, ein Spannungsfeld zwischen Subjekt <=> Objekt, das nur durch die Auseinandersetzung mit der Realität entsteht.

Die Geisteswissenschaften beschäftigen sich, wenn man das jetzt vereinfacht, mit der Spannung zwischen Subjekt und Objekt. Während also die Volkswirtschaftlehre auf die intersubjektive Nachvollziehbarkeit abstellt, das Subjekt also eliminiert wird, bzw. das Subjekt selber Erkenntnisobjekt ist, ähnlich wie in der Physik, 1/2 mv2 = mgh ist unabhängig von der subjektiven Befindlichkeit immer richtig, geht es bei den Geisteswissenschaften um die Spannung zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Das Objekt ist in den Geisteswissenschaften nur insofern relevant, als es eine Bedeutung für das Subjekt hat, welcher Art diese Bedeutung auch immer sein mag.

 

Diese Unterscheidung wird bei Alfred Marshall in seinem Werk economics noch problematisiert. Ihm ist bewusst, dass durch rein monetäre Größen zwar die Stärke eines Motivs gemessen werden kann, aber über das Motiv selber keine Aussagen getroffen werden können. Jemand kann 100 000 Euro für ein Auto ausgeben, weil er daran tatsächlich Gefallen findet oder weil er lediglich die Nachbarn beeindrucken will. Wir können empirisch belastbar feststellen, dass die Marktakteure ihren Nutzen zu maximieren suchen, wir erfahren aber nicht, welcher Art dieser Nutzen ist. Sind die Motive durch die gesellschaftlichen Verhältnisse vorgegeben, bzw. durch den subjektiv fassbaren Möglichkeitsraum, dann messen monetäre Größen lediglich etwas, was selber Resultat von etwas ist und ganz anders wäre, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse anders wären bzw. der subjektiv erfassbare Möglichkeitsraum anders wäre.

Um diese Frage geht es im sogenannten Positivismusstreit, also einer Auseinandersetzung zwischen Adorno / Horkheimer auf der einen Seite und Popper / Albert auf der anderen Seite, wobei die der Kern der Problematik schon bei Alfred Marshall, das ist der Intellektuelle unter den Neoklassikern, schon vorweggenommen wurde. Während für Popper / Albert Theorien empirisch belastbar und damit auch falsifizierbar formuliert sein müssen, messen Fakten für Adorno / Horkheimer lediglich das Gewordene, das auch ganz anders sein könnte, wenn die historische Entwicklung anders verlaufen wäre. Das gipfelt dann in der Sentenz Adornos: Das Ganze, ist das Falsche. Die Methoden der Naturwissenschaften sind damit eben gerade nicht, wie Popper / Albert behaupten, auf die Sozialwissenschaften übertragbar. Der Energieerhaltungssatz ist nichts, was auch anders sein könnte, wenn die geschichtliche Entwicklung eine andere gewesen wäre. Der beschreibt einen Zusammenhang, der nun mal so ist, wie er ist und eben nicht das Resultat einer geschichtlichen Entwicklung.

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