staunen, nicht ärgern

Wozu Geisteswissenschaften?

Die öffentliche Debatte bei egal welchem Thema, Klimawandel, Konjunkturpolitik, medizinische Versorgung, Rentenproblemantik, etc. ist geprägt durch einen systemischen Ansatz. Es wird also darüber debattiert, welche Parameter man verändern muss, z.B. Besteuerung von CO2 (Klimawandel), Entlastung von Unternehmen / vermehrte Staatsausgaben (Konjunkturpolitik), Einführung einer Praxisgebühr (medizinische Versorgung), Riesterrente (Rentenproblematik) etc.etc.. Ein systemischer Ansatz zielt darauf ab, durch negative bzw. positive Anreize das Verhalten in die gewünschte Richtung zu lenken, was im Einzelfall durchaus zielführend sein kann. Eine Finanztransaktionssteuer z.B. hätte die segensreiche Wirkung, dass REALINVESTITIONEN attraktiver werden und rein spekulative Investitionen reduziert werden.

Es herrscht weitgehend Konsens, dass die ökonomische Basis, das trifft im übrigen auch auf den Sozialismus zu, systemisch gesteuert wird. Soll heißen: Die gesetzten Anreize lassen ein bestimmtes Verhalten erwarten und ganz überwiegend trifft dies zu. Unter diesen Auspizien wird aber die Definition von Rationalität, wie wir sie in jedem Lehrbuch zur Mikroökonomie finden, dubios.

„Der Begriff „Rationalität” bezieht sich auf das Verhalten von Wirtschaftssubjekten (Produzenten und Konsumenten) in Entscheidungssituationen. Der ökonomischen Rationalität liegt allg. das Streben nach größtmöglichem Nutzen bei beschränkten Handlungsalternativen zugrunde.“

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/oekonomische-rationalitaet-44883

Wir können daraus schließen, dass Ökonomen keine Anhänger von Che Guevara sind. Die Handlungsalternativen ergeben sich aus den Anreizen, die das System bietet. Innerhalb des durch das System gesetzten Rahmens, soll also der Nutzen maximiert werden. Da sich das auf Produzenten und Konsumenten bezieht ist klar, dass nicht der gesamtwirtschaftliche Nutzen maximiert werden soll, sondern der Nutzen der individuellen Marktakteure. Wir haben also in der Volkswirtschaftslehre eine Vorstellung von Rationalität, die vielleicht dem Allgemeinverständnis von „Kapitalismus“ entgegenkommt, aber mit Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Diese Art von Rationalität maximiert den Nutzen innerhalb eines gegebenen Systems, hinterfragt aber das System nicht. Wer das System hinterfragt, bzw. versucht es zu verändern, maximiert eben gerade nicht seinen persönlichen Nutzen. Versuche das System zu ändern sind in der Regel nicht besonders rentabel.

Um das Problem mal überspitzt auf den Punkt zu bringen. Unter Zugrundelegung dieser Vorstellung von Rationalität, handelt derjenige rational, der das Unternehmen eines enteigneten jüdischen Mitbürgers für ein apple und ein Ei aufkauft. Er maximiert seinen Nutzen. Die „Arisierung“ während der Zeit des Nationalsolsozialismus ist also durchaus ein rationales Verhalten.

Da wir diese und ähnliche Definitionen von Rationalität praktisch in allen Lehrbüchern der Mikroökonomie finden, können wir zumindest vermuten, dass den meisten Ökonomen der Unterschied zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht richtig bewusst ist. Die hypostasierte Wertneutralität ist eben überhaupt nicht wertneutral. Wer keine Werte vertritt, vertritt eben einen Wert, den der absoluten, totalen Indifferenz. Es mag durchaus sein, dass der einzelne innerhalb des Systems gar nicht erkennen kann, dass sein Verhalten gesamtwirtschaftlich problematisch ist, Volkswirte allerdings sollten das erkennen. In demokratischen Entscheidungsprozessen ist eine ganz entscheidende Frage, ob die demokratisch getroffenen Entscheidungen tatsächlich gesamtwirtschaftlich sinnvoll sind.

Dieser Begriff von Rationalität ist den Geisteswissenschaften, zumindest ideell gesehen, vollkommen fremd.

(In der Praxis sieht das dann anders aus. Natürlich wollen auch in den Geisteswissenschaften alle an die Fleischtöpfe Ägyptens, also irgendwie einen Job ergattern im staatlichen alimentierten Betrieb. Ob die Produkte tiefsinnigen Grübelns gesamtgesellschaftlich irgendeine Relevanz haben oder im Papierkorb landen bzw. auf Regalen verstauben, ist dabei völlig egal.)

Hinsichtlich der Geisteswissenschaften gibt es nichts, absolut nichts, was wir irgendwie sicher wissen. Wir wissen nicht einmal, WARUM Romane / Gedichte, Bilder, Musik etc. entstehen. Finanzielle Gründe spielen oft eine Rolle, von Balzac und Dostojewsky wissen wir z.B, dass sie notorisch knapp bei Kasse waren und die Schrifstsellerei eine relevante Einnahmequelle war, erklären aber das Phänomen nicht. Gottfried Benn war Arzt, er wäre auch ohne seine literarische Tätigkeit mühelos klar gekommen und vermutlich war seine literarische Tätigkeit völlig unrentabel. Herman Broch war Textilingenieur und erbte dazu passend noch gleich den väterlichen Betrieb. Robert Musil war Mathematiker, anzunehmen dass er es zumindest zu einem Versicherungsmathematiker bei einer Versicherung geschafft hätte, er zog es aber vor, an seinem Mammutwerk, dem Mann ohne Eigenschaften, zu arbeiten. Marcel Proust hätte schlicht auch gar nichts tun können, der war qua Erbe gut versorgt und sein Monumentalwerk, A la recherche du temps perdu, war vermutlich rein ökonomisch betrachtet auch ein Flopp. Dass einzelne Schriftsteller auch ökonomisch enorm erfolgreich waren, ein Paradebeispiel hierfür wäre Lion Feuchtwanger, beweist nicht das Gegenteil. Letzterer war sogar mit seinem Gesamtwerk ökonomisch erfolgreich, obwohl er keine Konzessionen an den Zeitgeist machte. Bei Thomas Mann ist zu vermuten, dass er sein Geld mit wenigen Werken verdient hat, Buddenbrocks, Felix Krull, Tonio Kröger. Dass der Zauberberg, Joseph und seine Brüder oder Dr. Faustus ein Kassenschlager waren, ist eigentlich kaum vorstellbar. (Das würde eine so intensive Erfahrung mit Literatur bei weiten Schichten voraussetzen, dass das ziemlich unrealistisch erscheint.) Die Bandbreite die literarische Werke entstehen lassen ist enorm und schwankt zwischen rein kommerziellen Interessen und Getriebensein, wie z.B. bei Kafka. Dazwischen liegt dann alles, was einem zu diesem Thema einfallen kann: Mimesis, litterature engagée, coping, der Versuch, dem Objekt eine Bedeutung zu geben und was einem sonst noch so einfallen kann. Was für die Genese von Literatur gilt, gilt mutatis mutandis wohl auch für Bilder und Musik.

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