staunen, nicht ärgern

Meint Goethe die instrumentelle Vernunft?

Ähnliches lässt sich auch über Ideologien aller Art sagen. So rein verstandesmäßig handelt es sich um absurde Gebilde, der Marxismus z.B. ist eine Wirtschafttheorie, die eigentlich komplett ohne Geldtheorie auskommt, woraus man dann schließen kann, dass das ganze Ding völlig abstrus ist, näheres unter www.economics-reloaded.de. Trotzdem arbeiteten Millionen Leute, zumindest konnte man diesen Eindruck aufgrund der Sonntagsreden gewinnen, an der Verwirklichung des Sozialismus und mit den Mitteln, die in Verteidigung gegen den nicht vorhandenen Klassenfeind gesteckt wurden, hätte man, auch wenn Sozialismus nichts anderes bedeutet, als dass alle Arbeitnehmer verbeamtete sind, das System also ökonomisch total ineffizient ist, den Sozialisms tatsächlich verwirklichen können. (Anders formuliert. Auch bei maximalem Schlendrian wäre noch soviel Geld übrig geblieben, dass das System nicht ökonomisch kollabiert wäre.)

So könnte man den Vers interpretieren.

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.

Die Vernunft konstruiert Weltbilder und die Menschen richten sich dann selber so zu, dass sie in diese von ihnen selbst konstruierte Welt passen. Anstatt also die Welt an ihre natürlichen Bedürfnisse anzupassen und ab und an mal das Hirn einzuschalten und sich zu fragen, ob etwas sachlogisch überhaupt richtig ist, passen sie sich an diese von ihnen konstruierte Welt an.

Diese Art von Vernunft steht im Zentrum der berühmten Schrift „Was ist Aufklärung“, von Theodor W.Adorno und Max Horkheimer. Am griffigsten dargestellt anhand der Figur des Odysseus. Odysseus kann nur überleben, indem er seine spontanen Gefühlregungen in den Griff bekommt, ihnen also nicht nachgibt, bzw. Maßnahmen ergreift, die dies unterbinden. Sie entrinnen den Sirenen, indem sich die Mannschaft die Ohren zustopft und Odyssseus an den Mast binden. Andernfalls wären sie dem Gesang erlegen und das Schiff wäre an der Küste zerschellt.

Die, das ist jetzt nicht mehr Adorno, sondern der Autor, ab und an notwendige Disziplin schlägt um in Irrationalität, wenn die Anpassung an Konstruktionen der Vernunft so weit geht, dass das Individuum ausgelöscht wird, das Subjekt also zum Objekt wird, bzw. das von Menschen erschaffene „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ keinen Individualisierungsprozess mehr zulässt.

Interpretiert man den Vers so, hätte Goethe praktisch die Kritik an der instrumentellen Vernunft vorweggenommen. Die instrumentelle Vernunft bezieht ihre Ausrichtung nicht mehr von außerhalb, sondern aus dem System, das die Menschen selber erschaffen haben. Die Menschen können keine absoluten Ziele mehr setzen, weil sie lediglich Teil des Systems sind. Sie werden zu Instrumenten, die das System konsolidieren und sind keine Subjekte mehr, die es gegebenenfalls verändern.

Klingt alles ziemlich abstrakt ist aber nicht vollkommen unplausibel. Der militärisch / industrielle Komplex z.B. ist charakterisiert durch eine Irrationalität, die sich nur noch durch die Eigendynamik des System erklären lassen, in dem die handelnden Akteure gefangen sind.

Ob Goethe tatsächlich die instrumentelle Vernunft von Adorno / Horkheimer vorweg genommen hat, ist strittig. Unstrittig ist, dass hier Vernunft in einem Kontext verwendet wird, in dem das Wort üblicherweise nicht verwendet wird.

Es gibt im übrigen noch eine andere sehr prominente Stelle, wo über Vernunft nachgedacht wird. Das sind aber gleich zwei Interpretationen möglich, weil das spanische Wort sueño sowohl Traum wie auch Schlaf bedeutet. Der Satz stammt von Francisco Goya und findet sich auf einem seiner Bilder, siehe https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/b/b9/Goya-El_sue%C3%B1o_de_la_raz%C3%B3n.jpg/606px-Goya-El_sue%C3%B1o_de_la_raz%C3%B3n.jpg.

El sueño de la razón produce monstruos.

Je nachdem wie man sueño übersetzt, kommen zwei völlige unterschiedliche Übersetzungen raus, mit drei unterschiedlichen Interpretationen.

1) Der Traum der Vernunft gebiert Monster.
2) Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster.

ad 1): Traum hat im Deutschen wie im Spanischen zwei Bedeutungen. Traum kann etwas sein, was angestrebt wird, ein Traumhaus ist eben ein Haus, das seinen Besitzer in jeder Hinsicht zufrieden stellt. Die Aussage wäre dann, dass die Vernunft als Ideal in die Irre führt, z.B. als instrumentelle Vernunft. Im Spanischen wird sueños selten in diesem Sinn, also als angestrebtes Ideal, verwendet, ist aber möglich, z.B. in diesem Satz: La noción de sueños, por último, también se utiliza para nombrar a los deseos o proyectos de difícil concreción: “Jugar en primera división y ganar el Mundial son mis sueños”. (Der Begriff Traum wird schließlich auch im Zusammenhang mit Wünschen und Projekten verwendet, deren Konkretisierung unwahrscheinlich ist.). Traum kann aber auch das sein, was passiert wenn man schläft, also Elemente der Realität zwar eine schlüssige Handlung ergeben, aber insgesamt eine ziemlich kunterbunte, weitgehend sinnfreie Darstellung der Realität ergeben. Bei dieser Übersetzung wird dann aus dem Traum von der Vernunft, also jemand stellt sich die Vernunft als Ideal vor, ein Traum der Vernunft selbst, die Vernunft träumt und gebiert dann Monster. Darunter kann man sich auch was vorstellen, wenn man sieht, dass Goya ein Künstler war. Der künstlerische Zugang zur Welt ist eher „intuitiv“ und dieser „intuitive“ Zugang kann treffsicherer sein, als ein diskursiver Zugang. (Eine Problematik, die in Goethes Faust im Gespräch zwischen Schüler und Mephistopheles angesprochen wird, siehe www.die-geisteswissenschaften.de). Die Aussage wäre dann, dass bei einem diskursiven Zugang, vor allem wenn das empirische Substrat dünn ist, ziemlich viel Unsinn herauskommt. Das wäre aber im Grunde ähnlich wie die instrumentelle Vernunft. Der Umschlag von Vernunft in Unvernunft gelingt dann besonders leicht, wenn das empirische Substrat fehlt.

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