Bekanntlich fallen in Goethes Faust ja ohne Ende gewichtige Aussagen, bei denen sich einem im ersten Moment die Bedeutung gar nicht erschließt, man überliest das einfach. Im Vorspiel auf dem Theater im Faust z.B. macht sich Mephistopheles über die Menschheit lustig.
Ein wenig besser würd‘ er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
Wir haben also erstmal eine Gleichsetzung des Scheins des Himmelslichts und Vernunft. Die Vernunft hat also eine Beziehung zum Himmelslicht wie der Kerzenschein zur Kerze, wobei wir es natürlich mit einer Metapher zu tun haben. Das Himmelslicht und die Kerze erleuchten, allerdings tut ersteres das im übertragenen Sinne.
Richtig weiter bringt uns das allerdings nicht, denn der Begriff Himmelslicht ist völlig unbestimmt. Denkbar ist aber, dass Goethe mit Himmelslicht etwas beschreibt, was Orientierung liefert, das haben die Himmelslichter vor Erfindung des GPS ja tatsächlich getan und das deckt sich auch mit dem allgemeinen Sprachgebrauch.
Im Gegenatz zum Verstand, der eher auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit abzielt ein Problem zu analysieren und die Komplexität einer Situation durchdringen zu können, zielt die Vernunft auf ein Ziel bzw. impliziert moralische Vorstellungen. Man sieht das sofort, wenn man sich den Sprachgebrauch anschaut.
Er hat einen scharfen Verstand.
nicht: Er hat eine scharfe Vernunft.
Einen scharfen Verstand können alle haben, auch ein Schwerverbrecher, aber es gibt nicht allzuviele Leute, die finden, dass Verbrecher vernünftig handeln.
Man sieht das auch bei allen Wörtern, die von Verstand und Vernunft abgeleitet sind.
Das ist unverständlich.
Das ist unvernünftig.
Ist etwas unverständlich, dann erschließt sich der Sinn nicht, bzw. die logische Struktur der Zusammenhänge ist nicht ersichtlich. Man versteht es dann einfach nicht. Ein unvernünftiges Verhalten jedoch ist ein Verhalten, dass im Hinblick auf ein wie auch immer definiertes Ziel nicht zielführend ist.
Vernünftig ist also ein Verhalten, das ausgerichtet ist auf ein Ziel, wobei das Ziel auch die Durchsetzung moralischer Vorstellungen sein kann. Vernünftig handelt jemand, zumindest im Auge des Betrachters, dessen Verhalten geeignet ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, bzw. dessen Verhalten mit den moralischen Vorstellungen des Betrachters kompatibel ist.
Vernunft hängt dann davon ab, was die Menschheit unter Himmelslicht versteht, denn offensichtlich soll dieses ja den Kompass liefern, da wir aber vom Himmelslicht nur den Schein sehen, ist der Kompass etwas wackelig. Bis jetzt bleibt also nur übrig, dass Gott den Menschen zwar mit Vernunft aufstattet hat, er also bestrebt ist, sein Verhalten nach übergeordneten Zielen und moralischen Vorstellungen auszurichten, diese übergeordneten Ziele jedoch weitgehend unbekannt sind. (Wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass es Vernunft im Tierreich nicht gibt. Tiere können Verstand haben, also in einem gewissen Umfang Sachzusammenhänge erkennen und daraus Lösungsansätze ableiten, versuchen aber nicht, ihre Handlungen in einen größeren Sinnzusammenhang einzuordnen.)
Wir halten also fest. Aus der Sicht des Mephistopheles ergibt sich das Malheur aus der Tatsache, dass Menschen versuchen ihr Handeln in einen größeren Zusammenhang zu stellen, was ja vordergründig nicht mal unplausibel ist.
(Im Kontext des Gesamtwerkes ist das etwas anders. Da Faust ja letztlich keine Ruhe findet, egal welche Genüsse ihm Mephistopheles verschafft und egal wieviel Macht er akkumuliert und missbraucht, in Faust II, letztlich bleibt die Erkenntnis, dass sinnvolle Ziele nur in Verbundenheit mit der Menschheit realisiert werden können: „Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.“ Gott hat also durchaus einen Plan, das Himmelslicht liefert schon Orientierung, allerdings hat Gott nur eine Vorstellung von der Richtung, für die konkrete Ausführung des Plans ist dann der Faust, den er seinen Knecht nennt, zuständig. Das Gesamtwerk ist aber im Moment nicht unser Thema, wer sich dafür interessiert, siehe https://www.die-geisteswissenschaften.de. Da wird dann über andere Teilaspekte des Werkes diskutiert.)
Vordergründig könnte man meinen, dass Menschen nach einem Rahmen suchen, Religionen, Sozialismus, Nationalismus, etc. innerhalb dessen das individuelle Handeln eine tiefere Bedeutung bekommt oder zumindest irgendeinen Sinn erhält. Der Mensch konstruiert also eine „vernünftige“ Welt und richtet sich selbst dann so zu, dass er in diese Welt passt.
Betrachtet man das Treiben entspannt von außen, erscheint das natürlich absurd. Xi Jinping z.B. ist scharf auf Taiwan, würde man ihn fragen, warum er sich diese winzige Insel einverleiben will, würde er antworten, dass sie ursprünglich mal zu China gehört hat, was zwar richtig ist, aber im Grunde ziemlich irrelevant. Eigentlich ist nicht mal klar, was er sich da einverleiben will. Die Insel an sich oder die Leute, die auf der Insel wohnen. Das heißt Xi Jinping hat irgendeinen theoretische Quark im Hirn, der aber durchaus bedeutsam ist für sein konkretes Verhalten. Es ist durchaus denkbar, dass sich die USA und China mal wegen dieser Insel in die Wolle kriegen. Wir sehen also ein Muster, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Kein Mensch kann rational nachvollziehen, warum Bismarck auf Biegen und Brechen und mit Blut und Eisen eine Deutsche Nation unter preussischer Vorherschaft formen wollte. Ein loser Staatenbund mit freiem Verkehr von Arbeit, Waren und Kapital, plus einheitlicher Währung macht ökonomisch Sinn, das deutsche Reich war dann eher der Beginn der Malaise.