Die Tausend Dollar Frage ist natürlich, was ästhetisches Emfinden überhaupt ist. Ein paar Kalauer à la Hegel, „das Schöne ist das Scheinen der Idee“ können wir uns dabei getrost an den Arsch nageln. Das bringt gar nix.
Wenn wir das ganze Problem plastisch betrachten wollen, können wir uns das Video oder so gefühlte Hunderttausend andere anschauen.
https://www.youtube.com/watch?v=b2-MirXVFy0
Ab 9:40 wird es dann endgültig fesselnd. Wer jetzt versucht, den ästhetischen Eindruck in Worte zu fassen, wird wohl scheitern. Vermutlich würde ein Kritiker viel über Igor Moissejew erzählen, dessen Versuch, traditionelle Tänze bestimmter Volksgruppen künstlerisch zu verwerten, das macht er z.B. hier https://www.youtube.com/watch?v=hBdB5-vmgIY oder völlig neue Tanzformen zu entwickeln, ausführlich schildern. Damit wäre er aber einer Beschreibung, was beim Sabbath der Hexen passiert, bzw. einer Beschreibung der ästhetischen Empfingung, nicht einen Millimeter näher gekommen. Man kann jetzt darüber nachdenken, wie so was überhaupt entsteht. Da Moissejew das, was er in seinem Tanz ausdrückt, selber auch noch nicht real gesehen hat, bzw. nur andeutungsweise, denn das gibt es in der Realität gar nicht, hat er vermutlich irgendwann per Zufall so eine Szene geschaffen und das dann vertieft. Oder irgendwie ganz anders, wer weiß das schon.
Ästhetisches Empfinden hat wohl irgendwas zu tun mit der spielerischen Umgestaltung des Lebens, mit kontemplativen Erleben (meint zumindest Schiller in den Ästhetischen Briefen), mit Verdichtung und Überschuss. Vermutlich auch damit, die Welt zum sprechen zu bringen. Durch einen rätselhaften Zauber schafft es Dichtung das Leben umzugestalten, auch wenn die zugrunde liegende Erfahrung nicht besonders war und man wohl eher darauf verzichtet hätte, aber immerhin bleibt die Welt nicht stumm.
Ich stand in dunklen Träumen
Und starrte ihr Bildnis an,
Und das geliebte Antlitz
Heimlich zu leben begann.
Um ihre Lippen zog sich
Ein Lächeln wunderbar,
Und wie von Wehmutstränen
Erglänzte ihr Augenpaar.
Auch meine Tränen flossen
Mir von den Wangen herab –
Und ach, ich kann’s nicht glauben,
Dass ich dich verloren hab!
Hier versucht jemand, in diesem Falle Heinrich Heine, einen Moment festzuhalten. Täte er das nicht, würde er dem Vergessen anheim fallen. Das Spiel funktioniert natürlich auch mit Hundertausenden von Beispielen aus der Popmusik.
Vermutlich kommen alle Leute zu dem selben Schluss. Vermutlich würde man, wenn man auf der Straße die Leute fragen würde, welche Begriffe sie mit Kunst und welche mit Unterhaltung verbinden, ein ähnliches Muster finden: Überschuss, Transzendenz, nett, unterhaltsam, lustig, bewahren, etwas ins Bewußtsein bringen, Neues erfahren, entspannen.
Der reinen Unterhaltung mangelt es an Anschlussfähigkeit an das Leben, abstrakt gesprochen, es gibt keinen Überschuss. Mit Überschuss bezeichnen wir jetzt mal alles, was wir nicht sprachlich fassen können. Die Frage, ob die intuitive Erfassung des Überschusses eine Welterfahrung vorausetzt, die mit sprachlichen Mitteln nicht ausgedrückt werden kann, auch Dichtung ist ja nur deshalb ein Sprachkunstwerk, weil sie die Sprache überschreitet, oder im Grunde der Seele schläft, bis die Kunst ihn wachküsst, lassen wir jetzt einfach auf sich beruhen.
Wir kommen nicht an die Grenzen der Sprache, wenn wir den Inhalt des x-ten Krimis beschreiben wollen. Die Dinger sind halt auf 1,5 Stunden normiert. Irgendjemand bringt jemand um, raubt eine Bank aus, schmuggelt irgendwas und der Kommissar hat entweder ein glückliches Familienleben oder, wenn der Grundplot nicht ausreicht, noch Stress mit seiner Frau, seinen Kindern etc.. Also irgendwas in der Art.
Es wird wohl keinen klaren Cut geben, Unterhaltung geht fließend in Kunst über, wobei Kunst immer ausdifferenzierter ist, sich auf die Welterfahrung, bzw. auf die Grenze derselben, einer relativ kleinen Gruppe richtet. Die Unterhaltung ist unspezifischer und setzt auf der Welterfahrung einer sehr viel größeren Gruppe auf, was dann sachlogisch bedeutet, dass sie sich nicht an der Grenze der Welterfahrung befindet. Je weiter die Grenzen der Welterfahrung verschoben werden, desto deutlicher ist der Übergang zur Kunst. Unterhaltung ist deshalb auch ein eher modernes Phänomen. Solange es noch gar nicht möglich war, größere Gruppen zu beschallen, solange gab es auch noch keine Unterhaltungsindustrie.
Ein uriges Beispiel, wie Unterhaltung in Kunst übergehen kann, ist Pop Art. Eine einzelne Marylin Monroe ist ein Pin Up Girl. Hat man davon, wie bei Andy Warhol, Hunderte, wird das Gemachte, von jeder Individualität beraubte, Reproduzierbare thematisiert. Dann ist das wieder Kunst.
Es gibt wohl sehr viele Möglichkeiten des ästhetischen Erlebens. Kunst kann etwas wach küssen, was im Grunde der Seele schlummert, was aus der Realität nicht abgeleitet ist, Kunst kann einen Perspektivwechsel einleiten, das geht sogar reichlich rational, wie eben bei Bertolt Brecht oder aber an der Grenze der Welterfahrung operieren. In allen Fällen hat sie aber einen Überschuss, der der reinen Unterhaltung fehlt. Die Unterhaltung lässt das Publikum genau da zurück, wo sie es angetroffen hat. Alle drei Spielarten sind möglich also spontanes Erfassen, können aber auch mit Arbeit verbunden sein.