Die ganze Problematik sehen wir in diesem schlichten Satz: Es berührt mich.
(Wir meinen jetzt mit berühren nicht, dass irgendjemand einen anderen körperlich berührt, wir meinen damit, dass ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück etc. uns rührt. Wobei rühren schon selber Teil des Mysteriums ist. Bei der Rührung werden wir etwas durchgerührt, da wird unser rationaler Panzer etwas durchgeschüttelt.)
Die Frage ist nun, WAS berührt WEN, WIE und WARUM?
Grammatikalisch ist die das erstmal klar. Der Satz ist aktivisch. Der Ausführende der Handlung ist das Subjekt des Satzes. (Das Bild / Das Ballet / Der Song / Das Gedicht tut, zumindest rein grammatikalisch, etwas, es berührt uns nämlich. Allerdings nur grammatikalisch. De facto tut es schlicht nichts. Ein Bild das an der Wand hängt, tut gar nichts, kann uns aber, wie Bilder von Banksy, rühren. Der Satz „Das Ballon Girl von Bansky berührt uns“ ist grammatikalisch richtig, inhaltlich falsch, weil das Bild schlicht gar nicht tut. Eine Ballettaufführung von Igor Moiseev kann uns durchaus berühren, in diesem Fall tun die Tänzer auch was, aber darauf zielt der Satz „Die Ballettaufführung hat uns berührt“ nicht ab. Auch hier müsste der Satz eigenlich passivisch formuliert werden: „Wir wurden von der Ballettaufführung berührt.“ In diesem Falle wäre das Subjekt, was ja korrekt ist, auch Ziel der durch das Verb beschriebenen Handlung.
Die zweite Frage ist, WAS eigentlich berührt, bzw. was es eigentlich ist, von dem wir berührt werden. Das, was uns berührt, knüpft an irgenwas an, die Frage ist nur, an WAS eigentlich? Will man es auf den allgemeinsten Nenner bringen, dann geht es bei Kunst aller Sparten um Umgestaltung der Welt oder dessen Erweiterung. Das kann indirekt geschehen, wie etwa in einem Bild von Edward Hopper, https://fahrenheitmagazine.b-cdn.net/sites/default/files/styles/xl/public/field/image/hop3.jpg. Das Bild wird nur verstanden, wenn verstanden wird, was fehlt, was wiederum bedeutet, dass das, was fehlt, existiert, andernfalls würde ja niemandem auffallen, dass etwas fehlt. Wenn es aber lediglich fehlt, aber existiert, können Menschen es hinzufügen. Anders verhält es sich mit Bildern von Otto Dix. Da kommt die Gesellschaftkritik dann deutlich. Dann gibt es noch die Kategorie Paul Klee, Wassily Kandinsky etc., die sozusagen ein Parallel Universum schaffen, wobei uns das Paralleluniversum nur berührt und bedeutsam ist, weil es es etwas gibt, was ihm entspricht, obwohl die Bilder ganz definitiv nicht von dieser Welt sind. Das WAS ist ein Mysterium, was wir schon daran sehen, dass durch aller Sparten, Literatur, Malerei, Ballett, Theater, Musik es eine weite Palette an Möglichkeiten bzgl. des WAS existieren. Am besten dokumentiert ist das in der Literatur. Das reicht von Gesellschaftskritik, direkt wie bei Brecht oder Böll, bzw. indirekt wie Theodor Fontane (zumindest bei Effie Briest), über L’Art pour L’Art, Charles Baudelaire (wobei fraglich ist, ob ohne Welterfahrung diese Dichtung berührt und bedeutsam ist, L’Albatros z.B. hat auch eine inhärente Gesellschaftskritik), über Thesen Romane à la Thomas Mann im Zauberberg (findet zumindest der Autor dieser Zeilen, Thomas Mann philosophiert ziemlich viel, man könnte auch sagen er irrlichtert), zu impressionistischen Romanen bei Virigina Woolf, wo das Bewußtsein so aufleuchtet, wie das Licht im Impressionismus etc. etc. Die ganze Palette haben wir auch in der Musik. Das geht von massiver Gesellschaftkritik, z.B. by Born in the USA, von Bruce Springsteen, über Aufleuchten einer großen Ankunft in Beethovens 9. Symphonie (wobei unklar ist, ob beim durchschnittlichen Konzertbesucher die message von Schillers Ode an die Freude auch ankommt), bis zum Ausdruck eines Lebensgefühls im Tango oder Fado, wobei sich das WAS im Zeitablauf radikal ändern kann. Der Witz hier
wäre wohl zu Mozarts Zeiten nicht richtig verstanden worden. Dann gibt es noch sowas, also die Palette, wie Kunst berührt, ist unendlich.
Es gibt keine Theorie und damit auch keine sprachlichen Möglichkeiten mittels Sprache verständlich zu machen, was passiert. Bei Sammy Tavalis können wir uns zwar biegen vor lachen, wir können auch sagen, dass er Howard Carpendale parodiert, dass die Platte schneller läuft, als im Original, etc.. aber dann versuchen wir eine Welterfahrung sprachlich zu beschreiben, was aber nicht geht. Wir können uns über das WAS nicht sprachlich verständigen. Ginge das, wäre Sprache im übrigen das perfekte Substitut für Kunst, wir bräuchten dann gar keine Kunst. Die sprachliche Beschreibung eines Bildes von Miró wäre genau so berührend wie das Bild selbst. Was Gadamer sich da vorstellt unter verstehen, ist schlicht blanker Unsinn. Wir verstehen, warum sich die Leute bei Sammy Tavalis biegen vor lachen, aber mit sprachlichen Mitteln können wir das nicht erklären. Was immer das WAS auch ist, mit sprachlichen Mitteln können wir es niemandem mitteilen. Wir haben hier nicht etwas vor uns, dass wir mit sprachlichen Mitteln, wie etwa den Citratzyklus, einem anderen mitteilen könnten.