staunen, nicht ärgern

Hoher Zins zur Inflationsbekämpfung oder warum sich, so die Behauptung, jede Krankheit mit einem Vorschlaghammer heilen lässt

Die Welt ist voll von Texten mit tiefsten Einsichten, so tief, dass man sich fragen kann, ob reden überhaupt einen Sinn macht. Die öffentlich, rechtlichen Fernsehsender sind nicht gerade unterfinanziert, da kann man schon verlangen, dass mal 10 Minuten nachgedacht wird.

„Eigentlich wären nach ökonomischer Lehrmeinung deutliche Zinserhöhungen nötig, um die wirtschaftliche Aktivität abzukühlen und die Teuerung so in den Griff zu bekommen. Allerdings ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Gegner hoher Zinsen.“

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/tuerkei-inflation-111.html

Also selbst wenn der Dichter, der dieses Poem in Prosa verfasst hat, keine Ahung hat von makroökonomischen Kettenreaktionen, sollten ihn die Nebenwirkungen der Medizin, die hier verabreicht werden soll, doch mal zumindest ganz kurz stutzig gemacht haben. Wenn das die „öknomische Lehrmeinung“ ist, dann Prost. Der Zusammenhang, auf den abgestellt wird, ist das: Hebt die türkische Zentralbank den Zins auf sagen wir mal 50 Prozent, dann können wir ziemlich sicher sagen, dass keine kreditfinanzierten Investitionen mehr stattfinden. Es würde dann auch wenig nützen, wenn die Sparquote ins Gigantische steigt, weil zu 50 Prozent Zinsen niemand mehr eine kreditfinanzierte Investition tätigt. Die Bautätigkeit würde also gegen Null gehen, niemand würde mehr ein Hotel eröffnen, wenn er dafür einen Kredit braucht, niemand würde mehr ein Auto oder Maschinen auf Kredit kaufen. Die wirtschaftliche Tätigkeit würde vollkommen erlahmen, die Arbeitslosigkeit rasant steigen, mit dem Ergebnis, dass auch der Konsum zusammenbricht. Weiter würde ausländisches Kapital anrücken, die türkische Lira pushen und damit auch den Export zum Zusammenbruch bringen. Liegen die Waren wie Blei in den Regalen, wird kein Händler und kein Unternehmen die Preise anheben, aber wir hätten massig Schilder auf denen steht „Wir schließen! Alles muss raus“ oder irgendwas in der Art. Die Inflation wäre gestoppt, das Land Bankrott. Um in derselben Logik zu bleiben. Jede, absolut jede Krankheit, ist durch einen zehn Kilogramm schweren Vorschlaghammer der mit entsprechender Wucht auf die Stirn appliziert wird heilbar. Tote sind NIE krank.

So absurd das klingen mag, mittels des Zinsatzes die Inflation zu stoppen hat schon der Chef der Federal Reserve, der amerikanischen Zentralbank, in den Jahren 79 / 80 versucht. Der hob den Zins auf 20 Prozent, verknappte also dementsprechend die Geldmenge und erreichte tatsächlich einen Rückgang der Inflation, der aber durch eine tiefe Rezession erkauft wurde. Also das ist jetzt ganz definitiv nicht die ökonomische Lehrmeinung.

Es gibt tatsächlich eine Konstellation, bei der man qua Zinserhöhung die Inflation stoppen kann und die Nebenwirkungen erträglich sind, nämlich bei Vollbeschäftigung, aber auch dann sind die Nebenwirkungen einer Zinserhöhung vielschichtig. Übersteigt bei Vollbeschäftigung die Nachfrage das Angebot, hätte eine Zinserhöhung den Effekt, dass mehr gespart und damit weniger konsumiert wird. Das würde bedeuten, dass die Konsumgüterindustrie, zumindest wenn der Faktor Arbeit ausreichend flexibel ist, zugunsten der Investitionsgüterindustrie schrumpft. Die quantitative / qualitative Ausweitung der Kapazitäten hätte dann zur Folge, dass die höhere Nachfrage nach Konsumgütern in der nächsten Perionde befriedigt werden kann, der Zins und damit die Sparquote wieder sinkt und das System wieder ins Gleichgewicht kommt. In der Realität würde noch was anderes passieren. Die Währung des Landes, das den Zins anhebt, würde aufgewertet, der Import an Waren würde zunehmen, die Leistungsbilanz unter Umständen in den negativen Bereich drehen.

In der Unterbeschäftigung, also der Normalfall, hat der Zins keine sinnvolle Allokationswirkung, er kann auch Null sein. Das dürfte eine der Kernaussagen des Keynesianismus sein, für Details siehe https://www.economics-reloaded.de/pdf-Dateien/Keynes_Buch.pdf. (Das Problem bei Keynes ist ein anderes. Selbst wenn Geld in rauen Mengen zur Verfügung steht, ist noch lange nicht gewährleistet, dass dieses auch sinnvoll eingesetzt wird. Ein Grund hierfür wird hier beschrieben https://theatrum-mundi.de/vermoegensverteilung-und-effizienz/.)

Man muss Erdogan jetzt nicht mögen, das Thema ist durch. Der Mann hat ein Problem mit der Pressefreiheit, mit rechtstaatlichen Normen, mit den Kurden, mit der Akzeptanz demokratischer Entscheidungsprozesse etc. etc.. Für eine Niedrigzinspolitik gibt es allerdings gute Argumente.

Um das mal kurz grundsätzlicher zu diskutieren. In der klassischen / neoklassischen Nationalökonomie, für Keynes das gleiche, da unterscheidet er nicht, hat Kapital einen Preis, weil es knapp ist und einzelwirtschaftlich gesehen ist es tatsächlich knapp. Knappe Güter werden über den Preis optimal alloziiert. Das Problem ist nur, dass Kapital makroökonomisch letztlich Geld ist und Geld ist eben überhaupt nicht knapp. Der Zins der klassischen / neoklassischen Nationalökonomie bestimmt sich auf der einzelwirtschaftlichen Ebene, der Zins einer Zentralbank dient der Steuerung der Geldmenge. Damit ergibt sich ein prinzipielles Problem. Aus der einzelwirtschaftlichen Perspektive ist der Zins einer Zentralbank willkürlich und stellt lediglich ein Hemmnis für Investitionen dar.

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