Es gibt wohl keinen Schriftsteller, der so brachial gegen alles wettert, was dem deutschen Philologenverband heilig, lieb und teuer ist. Das ist ein echter Treppenwitz. Karikiert werden die Mitglieder des deutschen Philologenverbandes in der Figur des Wagners im Faust. Liest man sich die „Lektürhilfen“ zu Goethes Faust durch, das sind die Teile, an denen sich Oberstudienräder entlanghangeln, wenn sie mal wieder uninspiriert vor der Klasse stehen, dann fällt auf, dass die Figur des Wagner dort gar nicht auftaucht. Den Studienrädern und Oberstudienrädern fällt gar nicht auf, dass sie gemeint sind.
(Wobei Wagner sogar noch die Variante light des beamteten Lehrers ist. Beim deutschen Philologenverband geht es dann eher um die Verbeamtung und weniger um inhaltliche Fragen. Bei Wagner ist noch ein Rest an intellektueller Neugierde da. Verbeamtet müssen Lehrer werden, weil der Job total wichtig ist. Ärzte, LKW Fahrer, die Leute, die die kritische Infrastruktur am Laufen halten, Wasserwerke – Elektrizitätswerke – Entsorgungsunternehmen etc. etc.. sind total irrelevante Tätigkeiten, da muss man nicht verbeamten. Die LKW Fahrer können ruhig streiken. Dann gibt es zwar nix mehr bei Edeka-Lidl-Aldi etc. aber das ist egal. Wirtschaft bricht dann auch zusammen und ohne Busfahrer kommen die Kids gar nicht mehr an die Penne, aber das ist alles egal. Wirklich wichtig sind nur Lehrer, deshalb müssen die verbeamtet werden. Lehrer kennen halt Penne und Uni. Was sich im Rest der Welt abspielt, ist völlig unerheblich.)
Der Faust ist insofern ein echt skurriles Phänomen. Warum das Anti-Beamtenbuch par excellence zum schulischen Kanon werden konnte, hat vielfältige Gründe, einer davon ist, dass Goethe der Meister der „Intuition“ ist, aber sich „intuitiv“ erlangte Einsichten sich äußert schwer vermitteln lassen. (Weshalb die Schüler sich ja auch an die solide Zusammenfassung des Faust bei Wikipedia halten. Für 9 Punkte in der Klausur reicht das. Im übrigen sind standardisierte Antworten ökonomisch auch effizienter, das lässt sich schneller korrigieren. Ein Erwartungshorizont, der steht im Lehrplan, verabschiedet vom Kultusministerium, macht also Sinn.) Es kann also passieren, dass der „Bildungsbürger“ in einem Werk karikiert wird und der das gar nicht merkt.
Die Problematik ließe sich anhand jeden Verses im Faust illustrieren, wir picken uns einfach einen raus.
WAGNER.
Ach Gott! die Kunst ist lang,
Und kurz ist unser Leben.
Mir wird, bei meinem kritischen Bestreben,
Doch oft um Kopf und Busen bang.
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
Durch die man zu den Quellen steigt!
Und eh‘ man nur den halben Weg erreicht,
Muß wohl ein armer Teufel sterben.
FAUST.
Das Pergament, ist das der heil’ge Bronnen,
Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?
Erquickung hast du nicht gewonnen,
Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.
Wagner hat also das Problem, dass er es nicht schaffen wird, sich durch die ganze Bibliothek durchzufressen. So weit so verständlich, so Figuren gibt es viele. Ein anderes Prachtexemplar dieses Typus ist Mr Ramsay im Roman To the lighthouse von Virginia Woolf oder der Vater von Amos Oz in Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Den ersten Teil der Erwiderung des Fausts verstehen Schüler dann unmittelbar, wobei bei den Kids diese Erkenntnis unmittelbar gegeben ist. Die sind die ganz bei Nina Hagen: Literatur, da wird mir übel von (https://www.youtube.com/watch?v=JWzPcDtZZZo). Gaming ist der Knaller.
Kritischer ist der zweite Teil.
Erquickung hast du nicht gewonnen,
Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.
Unklar ist, was Faust konkret unter Erquickung versteht und noch unklarer ist, was er unter eigner Seele versteht. Man könnte das jetzt aufdröseln und die zwei Wörter in den Kontext des Gesamtwerkes einbinden, über diesen Umweg könnte man nachweisen, dass es Faust nicht um Erkenntnis geht, sondern um Erfahrbarkeit des tobenden Lebens. (Was natürlich voraussetzt, dass man außer Penne – Uni – Penne, das ist ja die Biographie der Studienräder und Oberstudienräder, mit diesem überhaupt Kontakt hatte, bzw. zumindest ahnt, dass es sowas wie das tobende Leben überhaupt gibt.) Um die zwei Verse zu verstehen, muss der Leser also auf eine Vorerfahrung zurückgreifen können. Geschildert wird das Ergebnis eines Prozesses, aber nicht der Prozess selbst und ohne Kenntnis des Prozesses, ist das Resultat eigentlich unverständlich, es sei denn, dass der Zustand „intuitiv“ erfasst wird. Die Dichtung und der Leser brauchen also denselben Erfahrungshorizont als Ergebnis eines, meist lediglich nur schwach bewussten, Prozesses. Bei dem oben genannten Vers ist der Leser auf seinen subjektiven Erfahrungshorizont angewiesen, denn eigentlich ist der Vers unverständlich. Beschrieben wird ein Zustand, der nur sehr dunkel erfasst wird.
Aus der Seele quillt erstmal gar nichts. Bei Thomas von Aquin existiert sie zwar, aber selbst bei Thomas von Aquin bringt sie nichts hervor. Des weiteren kann es auch keine Antwort sein, auf das Statement von Wagner, denn das Statement von Wagner bezieht sich auf eine kognitive Tätigkeit und das hat auf jeden Fall, selbst wenn wir konzedieren würden, dass irgendetwas aus der Seele quillt, mit der Seele gar nichts zu tun.