staunen, nicht ärgern

Sind wir, was wir gelesen haben? Bemerkungen zu Golo Mann

Ein Band mit Essays von Golo Mann trägt den Titel: Wir sind, was wir gelesen haben. Wer jetzt erwartet, dass der Satz erläutert wird, niente pizza. Der Don Quijote scheint im übrigen irgendwie nicht so richtig durchgekommen zu sein bei ihm, das ist schon das Problem bei seinem Paps (Meerfahrt mit Don Quijote). Wenn ein Irrer ein Loblied auf das Militär und auf Gott und Altar singt, da könnte da was mit Militär, Gott und Altar nicht stimmen. Wenn der Geistliche in fragt, was diese ganzen Ritterbücher sollen, wo ein Schafhirte einen Giganten mit einer Steinschleuder ins Jenseits befördert, dann gibt es das nur in der Bibel. Dann ist die Bibel sozusagen das erste Ritterbuch. Eine Frau, die man nie gesehen hat, aber tief verehrt, ist Maria, aber eben auch Dulcinea del Toboso etc. etc. etc.. Also er hat da wirklich nichts verstanden, obwohl es eigentlich nicht schwer zu verstehen ist. Der Autor hat das Teil mal nachgedichtet, siehe https://www.spanisch-lehrbuch.de/uebungen/level3_hoerverstaendnis/literatur/Don_Quijote/quijote1.htm.

Aber egal, interessiert gerade nicht. Der Satz „Wir sind, was wir gelesen haben“, kann erstmal so nicht richtig sein, denn wir wären dann alle gleich, wenn wir die gleichen Bücher lesen würden. Das dürfte nicht der Fall sein. Da gilt glasklar:

Viele Säulen beschien die Sonne,
doch nur die Säule Memnons klang.

Zweitens befleißigt er sich, das ist eine Marotte von Geisteswissenschaftlern, eines Dunkelsprech. Wir müssen schon eine Portion Intuition mitbringen, um zu verstehen, was er meint. Er meint natürlich die Bücher, die „die unser Gemüt ansprechen“, unser „Seelenleben tiefer prägen“. Also im erweiterten Sinne Dichtung.

Prägend kann natürlich auch ein modernes Lehrbuch der Makroökonomie sein, etwa die Schwarte von Mankiev, auch wenn der Autor hier eine klare Präferenz für die Orginale hat, also z.B. für die General Theory on Employment, Interest and Money, John Maynard Keynes oder von Alfred Marshall, Economics. Prägen kann uns natürlich auch ein Buch über Elektrophysik, Molekularbiologie, eine Studie über erneuerbare Energien oder was auch immer. Wissen allgemein prägt, aber das meint er nicht: Er meint Dichtung im erweiterten Sinne, also auch Geschichtschreibung, Philosophie, etc..

Was mit der Aussage ganz grundsätzlich nicht stimmt, ist das, was wir schon hatten: https://theatrum-mundi.de/bemerkung-zur-menschlichen-sprachverarbeitung/. Er geht davon aus, dass Sprache unmittelbar zur Welterfahrung durchdringen kann und das kann sie eben nur, wenn die Wahrheit allein im Objekt liegt, also dann, wenn alle, die den Text verstehen, zum gleichen Ergebnis kommen würden. Dann wäre der Satz „Wir sind, was wir gelesen haben“ sogar richtig.

Will aber jemand ein Spannungsfeld, bzw. eine Haltung zur Welt, zwischen Subjekt und Objekt beschreiben, das macht ja Dichtung im Allgemeinen, dann versucht jemand mit sprachlichen Mitteln dieses Spannungsfeld zu beschreiben und die Kommunikation funktioniert dann nur, wenn Sender und Empfänger eine ähnliche Welterfahrung haben.

Hinsichtlich der Bandbreite, inwieweit das Spannungsfeld sprachlich vermittelt werden kann, haben wir enorme Diskrepanzen. Möglich ist, dass die Erfahrung

https://media.tate.org.uk/art/images/work/T/T02/T02290_9.jpg

wie hier schlicht gar nicht vermittelt werden kann. Wir können zwar feststellen und konstatieren, dass Formen und Massen alles mögliche ausdrücken, Kraft, Bewegung, Dominanz, Archetypen darstellen, Freude etc. etc. aber das ist dann auch schon das Ende der sprachlichen Möglichkeiten. Man kann sich auch darüber wundern, dass das so ist, aber ansonsten reichen die sprachlichen Möglichkeiten nicht aus, um die Erfahrung zu beschreiben. (Wäre dem nicht so, bräuchten wir ja keine Musik, kein Tanz, Ballett, Malerei, Bildhauerei etc.. Wir könnten das gleiche auch mit den Mitteln der Sprache erreichen.)

Hier sind wir an der Grenze der sprachlichen Möglichkeiten.

An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll′ s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik –
trunken schwamm′ s in die Dämmerung hinaus…

Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd von bunter Seligkeit.
– Hörte Jemand ihr zu?…

Friedrich Nietzsche (Yep, Nietzsche war zwar ein Spinner, hat aber hübsche Gedichte geschrieben)

Kann man erleben, in einer warmen Sommernacht im mediterranen Raum. Einsam und doch beglückt vom Glück der anderen, das schwerelos und menschlich ist.

Unstrittig ist, dass wir unser Wesen nicht erkennen können, wenn wir nie dem begegnen, was ihm entspricht und Kultur und Geist ist nun mal ein weit größerer Kreis, als das, was uns unmittelbar umfängt. In der Dichtung haben wir zweitausend Jahre Vergangenheit und ein paar Tausend Jahre Zukunft. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns da begegnet, was unserem Wesen entspricht, ist also wesentlich größer.

In engem Kreis, verengert sich der Sinn
es wächst der Mensch, mit seinen größeren Zwecken

bemerkte schon Friedrich Schiller zutreffend.

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