Irgendwann mal ist wieder der 10. Mai und Onkel Steinmeier wird eine Rede schwingen zur Erinnerung an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933, inklusiv der Kalauer von Heinrich Heine: Wo man Bücher verbrenntn, da verbrennt ma auch Menschen. Dann wird uns der Onkel, bzw. sein alter ego ChatGPT noch viel erzählen über Meinungsfreiheit, Kant und dessen Tralala mit der Aufklärung, Toleranz und wo eben selbige ihre Grenzen hat. Das übliche Programm halt und alles Banane.
Interessant wird der Vorgang, also die Bücherverbrennung, wenn man sich das genauer anschaut, vor allem wessen Werke da verbrannt wurden: Walter Benjamin, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Max Brod, Otto Dix, Alfred Döblin, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Sigmund Freud, George Grosz, Heinrich Heine, Ödön von Horváth, Franz Kafka, Erich Kästner, Siegfried Kracauer, Karl Kraus, Karl Liebknecht, Georg Lukács, Rosa Luxemburg, Heinrich Mann, Klaus Mann, Ludwig Marcuse, Karl Marx, Robert Musil, Carl von Ossietzky, Erich Maria Remarque, Joachim Ringelnatz, Anna Seghers, Arthur Schnitzler, Bertha von Suttner, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Arnold Zweig und Stefan Zweig.
Wenn diese Autoren in der Zeit des Nationalsozialismus und vor der Bücherbrennung mehr als 5 Prozent der Bevölkerung dem Namen nach kannten und von 0,5 Prozent der Bevölkerung tatsächlich GELESEN wurden, dann erstarrt der Autor dieser Zeilen vor Ehrfurcht ob der ENORMEN literarischen Bildung der damaligen Gesellschaft. Bei Walter Benjamin, Ernst Bloch, Georg Lukács würde es ihn schwer wundern, wenn 0,1 Prozent der Bevölkerung diese Autoren auch nur dem Namen nach kannten. Es ist davon auszugehen, dass der Bekanntheitsgrad dieser Autoren durch die Bücherbrennung, einer das gesamte Staatsgebiet umfassenden Kampagne, dramatisch gesteigert wurde. Im Einzelfall mag es anders gewesen sein, insbesondere wenn es sich um Autoren handelte, die schon zum damaligen Zeitpunkt „Klassiker“ waren und Schullektüre, wie Heinrich Heine bzw. Bertolt Brecht, da kann ein gewisser Bekanntheitsgrad zumindest dem Namen nach vorausgesetzt werden, oder es sich um Autoren handelt, die tatsächlich schon in der Weimarer Republik berühmt waren wie Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Franz Werfel, aber es ist kaum anzunehmen, dass der Bekanntheitsgrad die oben genannten Grenzen überschritten hat. Die Bücherbrennung war also eine äußerst skurrile Veranstaltung.
1) Sie unterstellt eine Wirkmächtigkeit, die nie vorhanden war. Vordergründig ging es um den Schutz des „deutschen“ Geistes bzw. um die Bekämpfung des „undeutschen“ Geistes, der war aber, mangels Relevanz, schon vorher ausreichend gut geschützt, bzw. durch diese Autoren, die eigentlich kein Mensch las, kaum bedroht.
2) Sie machte Autoren bekannt, die, zumindest vordergründig, im Orkus der Vergessenheit hätten verschwinden sollen. Wenn wir uns etwas darunter vorstellen wollen, dann können wir an Björn Höcke denken. Im Grunde redet der ja völlig wirres Zeug, das eigentlich niemand interessieren würde. Durch die massenmediale Verbreitung seiner Ergüsse wird aber eine Relevanz suggeriert, die ohne eben diese massenmediale Verbreitung schlicht nicht existieren würde. Ähnliche Liga Martin Walser. Dem Namen nach kennen ihn viele, das ist ordentlich Marketing dahinter. Dass seine in der Rede in der Paulskirche geäußerte Privatmeinung zum Holocaust ein derartig massenmediales Echo fand, ist allerdings etwas schleierhaft. Ist jemand der Meinung, dass es sich hier um eine weit verbreitete Position handelt, so könnte man argumentieren, wenn man erklären will, warum die Rede dann durch alle Feuilletons gepustet wurde, dann kann es Sinn machen, darüber zu diskutieren, aber dann braucht es keinen Grund, die Thematik anlässlich dieser Rede aufzugreifen. Das Thema hätte man dann ganz ohne Martin Walser diskutieren können. Geholfen hat es Martin Walser auf jeden Fall.
3) Vermutlich war die Bücherbrennung bis zu einem gewissen Maße erfolgreich. Die Leute fingen also an, Autoren abzulehnen, die sie eigentlich nicht mal dem Namen nach kannten. Der so ventilierte Hass war also reichlich abstrakt, was wohl öfter mal passiert. Abstrakt ist der Hass dann, wenn das Objekt des Hasses in der Realität schlicht nie in Erscheinung tritt, bzw. das Objekt des Hasses nichts an sich hat, was es eindeutig charakterisiert. Vermutlich gibt es nach abstraktem Hass ein Bedürfnis, z.B. eines nach starken Emotionen, bzw. erfüllt dieser eine soziale Funktion, Identifikation mit der eigenen Gruppe oder was auch immer. (Abstrakter Hass ist eigentlich ein interessantes Phänomen und der Autor würde sagen, auch empirischen Untersuchungen zugänglich.)
Fasst man jetzt 1) bis 3) zusammen war der Sinn der Bücherverbrennung nicht die Verhinderung der Einflussnahme bestimmter Autoren auf die öffentliche Meinung bzw. zu verhindern, dass diese eine mit der nationalsozialistischen Ideologie inkompatible Orientierung geben können; wir können davon ausgehen, dass die Bedeutung der Dichter und Denker auf die öffentliche Meinung ohnehin ähnlich gering war wie heute, also praktisch Null. Ziel war die Erzeugung eines abstrakten Hasses, was für die Identifikation mit dem „Volkskörper“ förderlich war. Es mag sein, dass den Organisatoren der Bücherbrennung diese Zusammenhänge nicht klar waren und sie subjektiv der Meinung waren, den „undeutschen“ Geist zu bekämpfen. Objektiv bedrohten weder Heinrich Mann, noch Stefan Zweig, noch Lion Feuchtwanger den „deutschen“ Geist, deren Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung dürfte gegen Null gegangen sein.