staunen, nicht ärgern

Die Geburt der Identität aus dem Geiste des Blabla

Wörter, bzw. die Aneinanderreihung selbiger zu Texten, haben das Potential, reiner Geist zu sein, das heißt von jeder Bindung an das irdische Dasein losgelöst zu sein. Sie schweben dann zwar bindungslos über der Erde, sind ein freies Assoziieren, aber keineswegs wirkungslos. Sie schaffen Identität. Zumindest mal bei schlichteren Gemütern.

Der Bundestag hat uns ja mit einer Bundesstiftung Helmut Kohl bedacht.

https://www.bundesstiftung-helmut-kohl.de/

(Nicht zu verwechseln mit https://www.helmut-kohl.de/. Das ist die Konkurrenz, also die Seite der Gattin von uns langjährigem Kanzler.)

Auf der Eingangsseite haben wir dann ein Video, wo die tiefsten Erkenntnisse des großen Vorsitzenden Helmut eingeblendet werden. Gleich zu Beginn, wohl weil es Ausdruck tiefster Wahrheit ist, finden wir das Zitat:

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“

????? Die erste Frage, die sich stellt, ist dann: Welche Vergangenheit? Vermutlich kennen die Franzosen so einigermaßen die Vergangenheit Frankreichs, die Spanier, die von Spanien, die Argentinier, die von Argentinien, die Chinesen, die von China etc. etc. etc.. Es mag ja sein, dass die Franzosen, Spanier, Argentinier, Chinesen, Russen etc.. aufgrund ihrer jeweiligen Vergangenheit ihre jeweilige Gegenwart verstehen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre jeweilige Gegenwart dann aus einem verengten Blickwinkel betrachten und gründlich missverstehen ist 100 Prozent. Unter diesen Auspizien ist es geradezu sicher, dass die Gegenwart gründlich missverstanden wird. Die Vergangenheit scheint eher das Bergwerk zu sein, bei dem manche Leute sich eklektisch das heraussuchen, was ihrer Interpretation der Gegenwart entgegenkommt.

Wie bereits mehrfach erwähnt, hat Goethe zu allen relevanten Themen sich abschließend geäußert. Hat er sich zu einem Thema nicht geäußert, ist das Thema irrelevant.

Wagner:

Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.

Faust:

O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Es mag ja sein, dass der Historiker Helumt Kohl im Zusammenhang mit seiner Doktorarbeit, „Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945“, den Eindruck erlangt hat, dass nur wer die Vergangenheit kennt, die Gegenwart versteht, das liegt dann aber daran, dass schon das Thema der Arbeit nicht dazu geeignet war, die Perspektive gründlich zu verändern.

Das Zitat bringt geradezu die poppersche (Karl Popper, Das Elend des Historizismus) Todsünde auf den Punkt, ist Ausdruck des Historizismus. Hypostasiert wird, dass sich historische Tendenzen in der Gegenwart fortpflanzen. Also selbst wenn es gelänge, eine geschichliche Epoche objektiv zu beurteilen, soll heißen, bei allen Vergangenheiten, im Plural, zu einer objektiv richtigen Beurteilung zu kommen, müsste zweitens noch nachgewiesen werden, dass die historischen Tendenzen die Gegenwart prägen; und selbst wenn dies der Fall ist, würde das lediglich bedeuten, dass die Menschheit gefangen und geprägt ist von den Vorstellungen vergangener Zeiten und nicht von Ideen, die wirkmächtig sind, weil ihre Zeit gekommen ist.

Der große Vorsitzende geht aber noch einen Schritt weiter. Das Orakel behauptet, dass nur wer die Vergangenheit kennt, die Zukunft gestalten kann. Das wiederum heißt, dass es in der Gegenwart keine Entwicklung geben kann, die so einschneidend ist, dass eine völlig neue Situation entsteht. Ganz offensichtlich ist aber das Gegenteil der Fall. Technische Entwicklungen, wirkmächtige Ideen, Probleme wie der Klimawandel etc.. können die Situation derartig verändern, dass eine neue, noch nie dagewesene Situation entsteht. Der Klimawandel z.B. ist ein globales Problem und nur lösbar, wenn die Staaten kooperieren. So eine Situation hatten wir noch nie. Wir hatten auch noch nie eine Technologie, die die ganze Welt zum globalen Dorf macht.

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht, also in Vorlesungen über Organisation und Planung, ist es eher umgekehrt. Wer die Zukunft nicht kennt, kann die Gegenwart nicht gestalten. Entscheidend ist erstmal, dass man weiß wohin die Reise gehen soll. Weiß man dann, kann man die Gegenwart entsprechend gestalten und die Ziele, die in der Vergangenheit verfolgt wurden, sind nicht notwendigerweise die Ziele, die man in Zukunft verfolgen sollte.

Konfrontiert sind wir mit einer Komplexität, technischer, wirtschaftlicher, politischer, sozialer Natur bei der uns Ausflüge in die Geschichte nichts nützen. Xi Jingping kann da nichts lernen von Mao Zedong, Marcron nichts von de Gaulle, Scholz nichts von Bismark und was Putin von Stalin gelernt hat, trägt leider zur Gestaltung der Zukunft gar nichts bei, was uns zu einem weiteren Problem führt. Am besten man zieht aus der Geschichte gar keine Lehren, denn es ist weitgehend unklar, welche Lehren man daraus ziehen soll. Empirisch belastbar darstellbar ist eher die Gegenwart.

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